Grossbritanniens EU-Austritt: Nervenaufreibende Monate vor dem Brexit

Nr. 35 –

Der Brexit rückt näher, und eine Einigung ist nicht in Sicht. Dafür gewinnt die Kampagne für eine neue Volksabstimmung an Schwung.

Dürfen sie nochmals an die Urne? Brexit-Gegnerinnen am Rand einer Demonstration in London, 23. Juni. Foto: Carol Moir, Alamy

Als Brexit-Minister Dominic Raab vergangene Woche vor die Medien trat, gab er sich alle Mühe, unverkrampft und zuversichtlich zu wirken, aber der Schweiss auf Stirn und Lippen verriet seine Nervosität. Man kann es ihm nicht verübeln: Wenn es um den Brexit geht, ist die Zeit der Gelassenheit vorbei.

Raab präsentierte zwei Dutzend Regierungsdokumente, in denen BürgerInnen und Firmen Ratschläge für die Bewältigung eines «No-Deal Brexit» finden, also für den Fall, dass London und Brüssel vor dem Austritt am 29. März 2019 keine Einigung erzielen. Von diesem Szenario redet man in Grossbritannien seit einigen Wochen mit beunruhigender Regelmässigkeit – ein Hinweis darauf, wie weit Premierministerin Theresa May von einem Brexit-Plan entfernt ist, der sowohl die Zustimmung ihres Kabinetts als auch jene des britischen Parlaments und der EU-UnterhändlerInnen gewinnen kann.

Sperrminorität der HardlinerInnen

Mays Deal mit der eigenen Partei vom Juli, der sogenannte Chequers-Plan, sieht eine relativ enge wirtschaftliche Anknüpfung an die EU-Länder vor und hätte den Durchbruch bringen sollen. Stattdessen hat May damit die Brexit-HardlinerInnen gegen sich aufgebracht, für die der Plan eine Sabotage des Austritts darstellt. Auf der anderen Seite gibt es keinen Brexit, der die EU-AnhängerInnen zufriedenstellen kann. Und ob sich die EU auf Mays Vorschläge einlassen wird, ist ebenfalls unsicher: Am Montag wiederholte der französische Präsident Emmanuel Macron, was man aus Brüssel schon mehrfach vernommen hatte, nämlich dass die EU zu keinen Kompromissen bereit sei, die ihre Integrität gefährdeten – und der Chequers-Plan, der unterschiedliche Regeln für verschiedene Wirtschaftssektoren vorschlägt, würde genau dies tun.

So blickt Grossbritannien einigen nervenaufreibenden Monaten entgegen. Auch wenn May eine Einigung mit Brüssel erzielt, wird sie Mühe haben, den Deal dem Gros der ParlamentarierInnen schmackhaft zu machen, wenn es im Oktober oder November zur Abstimmung im Unterhaus kommt: Die Labour-Abgeordneten werden aller Wahrscheinlichkeit nach gegen den Regierungsvorschlag stimmen, und weil die Tories nur über eine hauchdünne Mehrheit verfügen, braucht die Regierung die Unterstützung der Brexit-HardlinerInnen; wenn sich nur sieben von ihnen querstellen, können sie die Abstimmung scheitern lassen. In diesem Fall könnte das Parlament zwar die Regierung anweisen, zurück nach Brüssel zu gehen, um neu zu verhandeln – aber erstens ist diese Variante von der Zustimmung der EU abhängig, und zweitens dürfte die Zeit langsam knapp werden. «Das Risiko, dass es zu einem bewussten oder versehentlichen ‹No Deal› kommt, ist recht hoch», schrieb der Thinktank Institute for Government vor drei Wochen.

Die Konsequenzen wären dramatisch. Von einem Tag auf den anderen würde Grossbritannien zu einem Drittstaat. Das hiesse, dass an der Grenze Zölle erhoben würden, dass in London vergebene Produktzertifikate in der EU nicht mehr gelten würden und dass britische Berufsabschlüsse in anderen europäischen Ländern nicht mehr anerkannt werden müssten.

Wenn Raab sagt, beide Seiten hätten ein handfestes Interesse daran, die heutigen Regelungen beizubehalten, hat er zwar recht. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass dafür eine Bürokratie nötig ist, der weder die britischen Unternehmen noch die Staatsbediensteten gewachsen sind. Finanzminister Philip Hammond warnte, dass sich die Kosten für den britischen Haushalt auf umgerechnet hundert Milliarden Franken pro Jahr belaufen würden.

So wird die Regierung alles daransetzen, ein solches Szenario zu verhindern. Dazu könnten jedoch weitere Konzessionen an Brüssel nötig sein, die den Frust von Brexit-Anhängern wie Exaussenminister Boris Johnson oder dem Abgeordneten Jacob Rees-Mogg vertiefen würden. Wenn die Premierministerin eine Abstimmung im Parlament gewinnen will, wäre sie also auf die Hilfe der Opposition angewiesen. Dass sich Labour dazu bereit erklärt, scheint derzeit unwahrscheinlich, sofern der Brexit nicht markant abgeschwächt wird.

Ein People’s Vote

Angesichts dieser Pattsituation wird ein möglicher Ausweg immer attraktiver: die Entscheidung dem Stimmvolk zu überlassen. Die Kampagne für ein sogenanntes People’s Vote hat in den vergangenen Monaten Fahrt aufgenommen. Die Idee dahinter lautet, dass die WählerInnen nach Abschluss der Verhandlungen entscheiden können, ob sie das Brexit-Abkommen für akzeptabel halten oder ob sie den Verbleib in der EU vorziehen. Laut einer Umfrage Anfang August wünschen sich 45 Prozent der BritInnen eine solche Mitsprache, während 34 Prozent dagegen sind.

Noch gibt es im Unterhaus keine Mehrheit, die ein Plebiszit gutheissen würde. Doch das könnte sich ändern. Denn der Enthusiasmus für den Brexit hat in den vergangenen Monaten sukzessive abgenommen, insbesondere in Nordengland, der traditionellen Labour-Hochburg. Das hat auch innerhalb der Oppositionspartei den Widerstand gegen den Brexit gestärkt, gerade unter jungen Mitgliedern. Wenn an der Labour-Jahreskonferenz Ende September eine Motion zugunsten des People’s Vote durchkommt, wird der Druck auf die ParlamentarierInnen gross sein, dem Wunsch zu entsprechen und die WählerInnen in den Brexit-Entscheid miteinzubeziehen.