Gewaltprävention: Ein Land erklimmt den Gipfel der Hysterie

Nr. 37 –

Die Schweiz befindet sich im Übergang zu einer masslosen Sicherheitsgesellschaft, die die Verletzung von Grundrechten in Kauf nimmt. Als neue Wunderwaffe dient die auf Algorithmen beruhende Gefährlichkeitsprognose.

Was in China schon umgesetzt wird, muss in der Schweiz nicht zwingend Realität werden. So weit ist es noch nicht. Doch ganz unrealistisch ist das Szenario einer Überwachungs- und Disziplinierungsgesellschaft hierzulande nicht. Zumindest, wenn man die aktuellen Entwicklungen in der sogenannten Gewaltprävention in Betracht zieht.

In China arbeiten die Behörden mit Feldversuchen schon heute daran, alle möglichen staatlichen und privaten Datensammlungen, insbesondere auch die Daten der massenhaften Videoüberwachungskameras, die mit einer Gesichtserkennungssoftware ausgestattet sind, in einer einzigen personenbezogenen Datenbank zusammenzuführen. Ziel einer solchen Metadatenbank wäre es, jede einzelne chinesische Bürgerin und jeden Bürger aufgrund von Kriterien des Wohlverhaltens laufend moralisch zu bewerten. Fällt das Tugendbarometer einer Person unter einen bestimmten Wert, so wird sie automatisch mit bestimmten Sanktionen belegt. Die chinesischen Behörden rechnen damit, in zwei bis drei Jahren flächendeckend ein funktionierendes moralisches Überwachungs- und Sanktionssystem aufgebaut zu haben.

In der Schweiz wähnen wir uns vor solch totalitären Träumen noch immer geschützt. Doch die neueren Massnahmen im Bereich der Gewaltprävention durchlöchern den rechtsstaatlichen Schutzwall schon jetzt auf bedenkliche Weise. Softwaregestützte Systeme verarbeiten individuelle Personendaten zu Gefährlichkeitsprognosen, an die einschneidende Massnahmen für die betroffenen Individuen geknüpft werden. Und: Die Sanktionen werden in einen Bereich vorverlagert, in dem anstelle der StrafrichterInnen die forensischen PsychiaterInnen und die Polizei das Sagen haben.

Strafvollzug als Versuchslabor

Blenden wir zurück: Ihren Anfang nahm diese Entwicklung in den frühen nuller Jahren im abgekapselten Bereich der Strafjustiz und des Straf- und Massnahmenvollzugs. Darauf folgten die administrativen Massnahmen gegen die Hooligans und ab den frühen zehner Jahren die präventive Eindämmung von privater oder politischer Gewalt in Form von Massnahmen gegen häusliche Gewalt sowie gegen sogenannte QuerulantInnen und politische ExtremistInnen. Die jüngste Welle betrifft die präventive Bekämpfung des islamistischen Terrorismus.

Dieses von Politik und Verwaltung vorangetriebene Sicherheitsregime ist rechtspolitisch gesehen äusserst fragwürdig, denn es unterläuft verbindlich garantierte grundrechtliche Prinzipien wie das Recht auf ein faires Verfahren, den Schutz der Privatsphäre oder das Recht auf persönliche Freiheit. Grundrechtswidrige Denkweisen und Praktiken werden im Bereich der Gewaltprävention zunehmend zur Normalität. Aus die ser Dynamik heraus zeichnen sich die Konturen einer präventiv agierenden Überwachungs- und Disziplinargesellschaft ab, die alle Bürgerinnen und Bürger gleichermassen betrifft und den Rechtsstaat in zentralen Belangen ausser Kraft setzt.

Seit jeher werden forensische PsychiaterInnen im Strafprozess wie auch im Strafvollzug mit Gutachten beauftragt, die unter anderem auch Aussagen über die künftige Entwicklung und insbesondere das Rückfallrisiko eines Täters oder einer Täterin beinhalten. Doch nachdem diese Prognosen früher ein untergeordnetes Element in einer gesamthaften Beurteilung der Persönlichkeit waren, hat sich das in den letzten zwanzig Jahren radikal geändert: Heute spielen die mit standardisierten Instrumenten erstellten Gefährlichkeitsprognosen eine zentrale Rolle in den forensisch-psychiatrischen Gutachten.

Diesen Instrumenten ist gemeinsam, dass sie auf der Grundlage einer vordefinierten Eingabe von delikt-, täter- und umweltbezogenen Daten ein Persönlichkeitsprofil des mutmasslichen oder verurteilten Straftäters erstellen. Dieses Profil wird von der Software mit statistisch ermittelten Risikoprofilen abgeglichen. Das Resultat ist eine quantifizierte Einstufung der Gefährlichkeit des untersuchten Subjekts. Wer bestimmte statistische Vorgaben erfüllt, gilt als wahrscheinlicheR künftigeR GewalttäterIn.

Die Karriere der «objektivierten», von Algorithmen gesteuerten Gefährlichkeitsprognose ist in der deutschsprachigen Schweiz mit der Karriere von Frank Urbaniok verknüpft, der von 1997 bis vor wenigen Wochen als Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes (PPD) im Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich wirkte und den öffentlichen Diskurs zum Straf- und Massnahmenvollzug massgeblich mitgeprägt hat. Seine immer gleiche Botschaft lautet, dass eine enge forensisch-psychiatrische Überwachung und eine deliktbezogene Therapie von Straf- und Massnahmengefangenen in Verbindung mit «objektiven» Prognoseinstrumenten es erlauben würden, das Rückfallrisiko von StraftäterInnen erheblich zu minimieren – sei es durch eine gelingende Therapie oder durch ein Wegsperren ohne Ende. Das dafür eingesetzte Prognoseinstrument Fotres (Forensisches Operationalisiertes Therapie-Risiko-Evaluations-System) entwickelte und vermarktete Urbaniok gleich selbst mit seiner Privatfirma Profecta AG. Es ist heute eines der gebräuchlichsten Prognoseinstrumente im Deutschschweizer Straf- und Massnahmenvollzug.

Die gekappte Freiheit

Innert weniger Jahre ist die Risikominderung bis hin zur Nullrisikostrategie zum Leitwert der Justizvollzugsbehörden geworden. Im Zweifelsfall werden betroffene InsassInnen aufgrund von Gefährlichkeitsprognosen weggesperrt. Eine Massnahme nach Art. 59 im Strafgesetzbuch (StGB) – eine «kleine Verwahrung» – kann nur verhängt werden, wenn dem psychisch gestörten Täter, der psychisch gestörten Täterin eine hohe Rückfallgefahr attestiert wird. Diese Einschätzung wird im Rahmen eines psychiatrischen Gutachtens mittels einer Gefährlichkeitsprognose erstellt. Dasselbe gilt zum Beispiel für Entscheide über die Verlängerung einer «kleinen Verwahrung» um weitere fünf Jahre.

In naher Zukunft werden in der Deutschschweiz alle InsassInnen von Justizvollzugsanstalten beim Antritt ihrer Strafe grob auf ihre künftige Gefährlichkeit hin durchleuchtet werden. Dafür sorgt der Risikoorientierte Sanktionenvollzug (ROS). Dessen Kern ist eine Einteilung der verurteilten StraftäterInnen in drei Kategorien: A-Fälle gelten bezüglich einer Rückfallgefahr als unbedenklich, bei B-Fällen wird näher hingeschaut, während die C-Fälle einer eingehenden forensisch-psychiatrischen Risikoabklärung unterzogen werden.

Die Software, die diese grobe Triage macht, heisst Fall-Screening-Tool (FaST). Es müssen nur einige Daten aus den Akten und dem Vorstrafenregister eingegeben werden – und in fünf bis zwanzig Minuten ist die Triage schon beendet. Laut einer Erhebung von SRF Data vom Frühling 2018 wurden seit 2016 in Deutschschweizer Gefängnissen bereits 4500 solcher Triagen vorgenommen.

Die so ermittelten C-Fälle geraten danach unter ein forensisch-psychiatrisches Regime. Zuerst werden sie einer verfeinerten Risikoanalyse mit einem Prognoseinstrument wie Fotres unterzogen. Die Software wird mit Hunderten von Angaben aus den Akten des Täters gefüttert. Gemäss dem SRF-Bericht generiert die Software «automatisch Interventionsempfehlungen und Therapievorschläge». Eine sogenannte Risikoabklärung dauert demnach «in der Regel zwei Tage. Kostenpunkt: 3500 Franken.»

Die konkrete Ausgestaltung des Straf- oder Massnahmenvollzugs dieser C-Fälle bleibt dann unter der Kontrolle der forensisch-psychiatrischen SpezialistInnen. Unter der Hand ist die forensische Psychiatrie so von einer Zudienerin der Justizbehörden zu einer autonomen Instanz im Straf- und Massnahmenvollzug geworden.

Ab Ende 2018 soll der Risikoorientierte Sanktionenvollzug in der Deutschschweiz flächendeckend angewandt werden. Gegen die Methode, Risikoprognosen zu erstellen, ohne je mit den betreffenden Personen gesprochen zu haben, wehren sich hierzulande nur die Westschweizer Kantone und das Tessin.

Die Gefährlichkeitsprognose scheint ganz ähnlich wie die Wetterprognose zu funktionieren: Die PsychologInnen erheben viele personenbezogene Daten, formulieren statistische Gesetzmässigkeiten und Modelle der persönlichen Entwicklung im Hinblick auf die künftige Gewaltbereitschaft – und verknüpfen die Daten und Modelle zu Prognosen der künftigen Gefährlichkeit einer Person.

Diese naturwissenschaftliche Orientierung der forensischen Psychiatrie führt zwangsläufig dazu, den Menschen als ein nach statistischen Gesetzmässigkeiten funktionierendes Wesen zu objektivieren. In dieser Sichtweise glaubt man daran, dass beim menschlichen Individuum aus seinen vergangenen und gegenwärtigen Taten zuverlässige Schlüsse in Bezug auf kommende Handlungen gezogen werden können. Damit ignoriert die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie ein zentrales Merkmal des Menschen, das ihn so merkwürdig macht – nämlich die Dimension der Freiheit im Handeln. Gefährlichkeitsprognosen setzen also voraus, dass man die Freiheit des Menschen durch die Wahrscheinlichkeit von Handlungsorientierungen ersetzt. Das ist ein Verstoss gegen die Menschenwürde.

Weil nun aber das gesamte Recht und insbesondere die Idee von Grund- und Menschenrechten auf der Voraussetzung der menschlichen Freiheit beruht, gibt es hier eine Unvereinbarkeit: Gefährlichkeitsprognosen dürften eigentlich in rechtlichen Kontexten keine entscheidende Rolle spielen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Gefährlichkeitsprognosen haben bei rechtlich begründeten einschneidenden Massnahmen immer mehr Gewicht. Neben dem Straf- und Massnahmenvollzug betrifft das vor allem den Bereich der polizeilichen Gewaltprävention.

Feldversuch «Bedrohungsmanagement»

«Das behörden- und institutionsübergreifende kantonale Bedrohungsmanagement, meistens unter der Führung der Polizei, soll das Gefährdungspotenzial bei einzelnen Personen oder Gruppen frühzeitig erkennen, dieses einschätzen und schliesslich mit geeigneten Massnahmen entschärfen»: So heisst es unter der Massnahme Nr. 14 im «Nationalen Aktionsplan zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus» (NAP) vom 4. Dezember 2017 (vgl. «26 präventive Massnahmen» im Anschluss an diesen Text).

Im Kanton Zürich gibt es in Schulen, auf Gemeindeverwaltungen, bei den Strafbehörden, im Gesundheitswesen, bei der kantonalen Verwaltung, den Kesb-Stellen, den Opferhilfestellen und den Fachstellen gegen häusliche Gewalt etwa 400 «Ansprechpersonen», die in einem Netzwerk der Kantonspolizei organisiert sind. Ihre Aufgabe ist es, selbst gemachte oder ihnen zugetragene Beobachtungen über ein bedrohliches Verhalten von beliebigen KlientInnen zu registrieren und eine erste Triage zu machen: Lässt sich der Fall intern regeln, oder soll er der Fachstelle Kantonales Bedrohungsmanagement (KBM) der Kantonspolizei gemeldet werden? Die Beobachtungen können explizite Gewaltandrohungen wie auch implizit wahrgenommene Bedrohungssituationen in sehr unterschiedlichen Bereichen wie häusliche Gewalt, verletzte Ehre, Stalking, querulatorisches Verhalten, Aufsässigkeit gegen Behörden, Drohungen am Arbeitsplatz oder in der Schule, politische Radikalisierung oder auch Dschihadsympathien betreffen.

Das Netzwerk der Ansprechpersonen wirkt wie ein Wahrnehmungsorgan für die Fachstelle KBM der Kantonspolizei. Wird dieser ein Fall gemeldet, stellt sie zuerst einmal die verfügbaren Daten über die Zielperson zusammen. Ein Tandem aus einem polizeilichen Bedrohungsmanager und einer forensisch-psychiatrischen Fachperson schätzt danach die Gefährlichkeit der Zielperson weiter ein und erarbeitet ein entsprechendes Fallmanagement mit Interventionsempfehlungen. Dieses stützt sich auf eine Software zur Gefährdererkennung (wie etwa Octagon oder Dyrias). Octagon zum Beispiel verlangt die Eingabe von einigen Dutzend differenzierten Einschätzungen und Angaben zu einer Person in acht Kategorien wie allgemeine Persönlichkeitsmerkmale, psychische Vorbelastung, Vorstrafen, begangene Gewaltdelikte oder aktuelles Problemverhalten. Bei diesen Angaben handelt es sich um Zuschreibungen, die nicht auf einer Befragung der Person beruhen, sondern auf Akteneinträgen und subjektiven Wertungen.

Die Leitung des KBM-Teams, bestehend aus VertreterInnen der Kantonspolizei Zürich sowie der Stadtpolizeien Zürich und Winterthur, entscheidet auf der Grundlage der forensisch-psychiatrischen Empfehlung über die Aufnahme der begutachteten Person ins kantonale Gefährderregister sowie über die gegenüber der Gefährderin, dem Gefährder zu treffenden Massnahmen.

Bei diesen Massnahmen kann es sich um polizeiliche verdeckte Vorermittlungen handeln oder aber um sogenannte Gefährderansprachen, bei denen ein Polizeibeamter die entsprechende Person kontaktiert und das Gespräch sucht. Alleine die Fachstelle KBM der Kantonspolizei Zürich nimmt pro Jahr etwa 400 neue Fälle auf und macht etwa 300 Gefährderansprachen. Wer einmal im kantonalen Gefährderregister ist, wird daraus für längere Zeit nicht mehr gelöscht: In den meisten Kantonen werden die Personendaten zehn Jahre ab der letzten Änderung aufbewahrt.

Im Jahr 2017 verfügten elf Kantone über ein umfassendes eigenes Bedrohungsmanagement, zwei Kantone beschränken es auf häusliche Gewalt; acht weitere wollen ein KBM einführen, wovon sich drei auf häusliche Gewalt beschränken. Gemäss Recherchen von SRF waren 2017 über 3000 Personen als GefährderInnen in den entsprechenden kantonalen Datenbanken registriert. Wichtige Themen waren häusliche Gewalt, Drohungen gegen Schulen und gegen Behörden.

Massenweise werden also bereits heute polizeiliche Dossiers angelegt und Ermittlungsmassnahmen verfügt zu Personen, gegen die in der Regel kein strafrechtliches Verfahren läuft und gegen die nicht einmal ein Verdacht auf ein Delikt besteht. Das bedeutet einen schweren Eingriff in deren Grundrechte. Um die rechtsstaatliche Brisanz dieses Vorgehens abzufedern, werden da und dort gesetzliche oder verwaltungsrechtliche Grundlagen geschaffen wie etwa das Reglement über das Bedrohungsmanagement der Stadtpolizei Zürich. Auch enthalten die revidierten Polizeigesetze der Kantone Zürich und Bern (hier ist noch ein Referendum hängig) entsprechende Freibriefe für Ermittlungen im präventiven Bereich.

Sanktionen ohne konkreten Verdacht

Im Bereich der Terrorismusbekämpfung hat der Bund die Federführung. Seine Strategie von Repression und Prävention fusst auf vier Standbeinen: dem neuen Nachrichtendienstgesetz (NDG), dem bereits erwähnten Nationalen Aktionsplan gegen Radikalisierung und Extremismus sowie je einem Gesetzespaket zur Verschärfung von Strafbestimmungen und zu präventiven polizeilichen Massnahmen (beide Vorlagen werden vom Parlament voraussichtlich im kommenden Winter verabschiedet).

Die im Entwurf zum Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus vorgesehenen Massnahmen und Sanktionen, die wohlgemerkt ausserhalb eines strafrechtlichen Verfahrens auf der Grundlage von blossen Vermutungen verhängt werden, verstossen gegen die Kerngehalte der Grund- und Menschenrechte auf Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, persönliche Freiheit und den Schutz der Privatsphäre. Sie wären demnach laut Bundesverfassung Artikel 36 Absatz 4 rechtswidrig. Das Parlament müsste die Vorlage also in hohem Bogen verwerfen.

Allerdings sollte man sich keine Illusionen machen: Die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) begrüsst die Vorlage vorbehaltlos und lobbyiert seit Mitte 2017 für das zusätzliche Instrument einer Präventivhaft für Verurteilte, die nach dem Verbüssen ihrer Strafe ein ernsthaftes Rückfallrisiko aufweisen. Konkret wird eine solche Sicherheitshaft für strafentlassene DschihadistInnen gefordert. In der Vernehmlassung zu den polizeilichen Massnahmen des Bundes forderten die kantonalen Justiz- und PolizeidirektorInnen und mit ihnen viele Kantone eine sogenannte «gesicherte Unterbringung für Gefährder» (GUG). Das wäre der Gipfel der Hysterie: eine Person nur aufgrund ihrer mutmasslich gefährlichen ideologischen Haltung auf unbestimmte Zeit wegzusperren. Damit würde die Schweiz ihr eigenes rechtlich bemänteltes Guantánamo schaffen.

Fazit: Der Zweck der Gewaltprävention scheint die neuartigen, auf die Zukunft bezogenen Formen der Stigmatisierung zu rechtfertigen. Dass damit Grund- und Menschenrechte ausgehebelt werden, wird von den bürgerlichen Mehrheiten in den Parlamenten in Kauf genommen. Eine schrittweise Ausweitung dieser Präventionslogik auf immer neue Lebensbereiche ist zu befürchten – falls es nicht bereits heute gelingt, politische Mehrheiten dagegen zu bilden. Denn potenziell gefährlich sind wir alle.

Alex Sutter (63) ist noch bis Ende September Co-Geschäftsleiter des Vereins humanrights.ch und Leiter der gleichnamigen Informationsplattform.

Auf www.humanrights.ch sind einige Artikel erschienen, die zentrale Aspekte dieses Beitrags eingehender behandeln.

Anpassung vom 14. September:
In der ursprünglichen Version dieses Textes ist der Redaktion ein sinnentstellender Fehler unterlaufen: Tatsächlich sind es nicht die Massnahmen des Nationalen Aktionsplans gegen Radikalisierung und Extremismus (NAP), die den Kerngehalt von Grund- und Menschenrechten verletzen, wie es in der ursprünglichen Version fälschlicherweise hiess. Vielmehr bezieht sich diese Aussage auf den Gesetzesentwurf über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus.

Nationaler Aktionsplan : 26 präventive Massnahmen

Der Nationale Aktionsplan gegen Radikalisierung und Extremismus (NAP) enthält 26 präventive Massnahmen. Massnahme Nr. 7 etwa möchte Instrumente zur Früherkennung von Radikalisierung fördern – auch hier mit softwarebasierten Instrumenten, die von Fachpersonen, Jugendämtern, Sozialdiensten, Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, im Straf- und Massnahmenvollzug und von der Polizei angewandt werden sollen. Massnahme Nr. 8 möchte die Instrumente zu Risikoeinschätzung und -management im Justizvollzug stärken, wobei als Zielgruppe die InsassInnen «aller Institutionen des Freiheitsentzugs und Personen, die zu einer strafrechtlichen Sanktion verurteilt wurden» genannt werden – also auch Personen, die nur gebüsst wurden.

Massnahme Nr. 14 macht sich für die Einführung des Konzepts des Bedrohungsmanagements in allen Kantonen stark. Massnahme Nr. 15 verlangt eine «gesetzliche Grundlage für den Austausch von personenbezogenen Informationen und Persönlichkeitsprofilen zwischen Bundes- und kantonalen sowie kommunalen Behörden». Eine solche Grundlage ist die Voraussetzung dafür, dass die in den kantonalen Gefährderregistern gesammelten Daten zwischen allen Behördenstufen frei fliessen können. Im NAP steht lakonisch: «In der Vorlage für präventiv-polizeiliche Massnahmen des Bundes zur Terrorismusbekämpfung ist eine solche gesetzliche Grundlage vorgesehen.»

Die Vorlage bezweckt die polizeiliche Regulierung des Privatlebens von Individuen, die für imstande gehalten werden, terroristische Straftaten zu begehen, ohne dass konkrete Indizien dafür bestehen. Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) wird ermächtigt, gewisse einschneidende Massnahmen gegen solche «potenziell gefährlichen Personen» oder «Gefährder» zu verhängen – und zwar (mit Ausnahme des Hausarrests) ohne Überprüfung durch ein Gericht. Vorausgesetzt wird nur die vage Vermutung, die betreffende Person könnte sich eines Tages an einer (sehr weit gefassten) terroristischen Straftat beteiligen.

So kann die Kantonspolizei gemäss der Gesetzesvorlage beim Fedpol beantragen, dass eine als «Gefährder/in» klassierte Person dazu verpflichtet wird, sich regelmässig zu Gesprächen mit Fachpersonen des kantonalen Bedrohungsmanagements zu treffen, also etwa mit forensischen Psychiaterinnen oder polizeilichen Verbindungsoffizieren zum Nachrichtendienst des Bundes. Weigert sich die Zielperson, daran teilzunehmen, kann gegen sie ein Hausarrest oder gar eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren verhängt werden. Ausserdem könnte sie vom Fedpol dazu verpflichtet werden, zu bestimmten Personen des eigenen Umfelds jeglichen Kontakt abzubrechen oder bestimmte Territorien nicht mehr zu betreten oder nicht mehr zu verlassen.

Alex Sutter