Mathematik: «Und dann sind es plötzlich drei Häschen»

Nr. 48 –

Der Philosoph Roy Wagner untersucht die Mathematik als historische und soziale Praxis. Ihre Formeln seien nicht so realitätsgetreu und wertfrei wie oft angenommen – sogar Geschlechterstereotype hätten einen Einfluss darauf.

«Wir unterschätzen die Mathematik, wenn wir sie für mechanisch, geistlos und unkreativ halten»: Roy Wagner in der Nähe seines ETH-Instituts.

WOZ: Roy Wagner, Sie sagen, Ihr Buch «Making and Breaking Mathematical Sense» handle von der Kraft der Mathematik. Wann haben Sie realisiert, dass es diese Kraft gibt?
Roy Wagner: Ich habe mit fünfzehn angefangen, Mathematik an der Universität zu studieren, und zunächst hat sie mich einfach als solche fasziniert. Auch durch mein wachsendes Interesse an Geisteswissenschaften wurde mir dann immer mehr bewusst, dass die Mathematik in unserer Gesellschaft eine fast magische Kraft besitzt. Also wollte ich herausfinden, wie sie funktioniert und woher diese Kraft kommt.

Haben Sie darum in die Philosophie gewechselt?
Mein Interesse an Geisteswissenschaften war anfangs vor allem von sozialen und politischen Fragen motiviert, darum habe ich mich eine Zeit lang auch mit kritischer politischer Theorie beschäftigt. Aber die Philosophie hat mir auch die Mittel gegeben, anders auf die Mathematik zu blicken.

Sie illustrieren die Kraft der Mathematik am Anfang Ihres Buches mit einem Beispiel: der 1973 aufgestellten Black-Scholes-Formel zur Berechnung von Optionen auf dem Finanzmarkt. Obwohl man sich einig ist, dass sich mit dieser Formel empirisch kaum etwas voraussagen lässt, ist sie bis heute der Standard zur Berechnung von Optionen und hat ihren Erfindern 1997 den Wirtschaftsnobelpreis beschert. Wie ist das möglich?
Wenn es um die Anwendung der Mathematik geht, kommt den meisten zuerst eine naive Vorstellung von Physik in den Sinn: Die Mathematik ist nützlich, weil ihre Gesetze die Wirklichkeit beschreiben. Aber ich glaube nicht, dass die Mathematik in den meisten Fällen so funktioniert. Die Black-Scholes-Formel ist dafür ein gutes Beispiel. Händler auf dem Finanzmarkt sagen: Die Formel selber funktioniert nicht; entweder man denkt sich unrealistische Parameter aus, um der Formel gerecht zu werden, oder man benutzt sie überhaupt nicht.

Aber wenn die Formel unbrauchbar ist, wieso hat sie trotzdem diese Bedeutung?
Sie kommt aus der Physik, die ein sehr hohes Ansehen geniesst, und enthält jede Menge tiefgründige Mathematik, bei der wir dazu neigen, ihr zu vertrauen. Zudem ist sie einfach zu lernen und anzuwenden. Aber entscheidend ist: Sie erfüllt einen anderen Zweck, als die Wirklichkeit zu beschreiben. Händlerinnen sagen, dass sie ein sehr gutes Mittel sei, sich über Optionen zu verständigen. Die Formel dient ihnen als Standard, um den Markt zu verstehen. Die Abweichung tatsächlicher Preise von der Formel und die Rekonstruktion von Parametern anhand der Formel helfen den Händlern zu verstehen, was auf dem Markt tatsächlich vor sich geht.

Sie verständigen sich über die Art, wie sie die Formel unterwandern?
Darum geht es nicht. Ludwig Wittgenstein hat ein grossartiges Beispiel, um zu erklären, was hier geschieht. Wir sagen: «Die Planeten bewegen sich in Ellipsen.» Schauen wir das Sonnensystem dann genauer an, merken wir, dass es komplizierter ist und sich die Planeten eigentlich auf Bahnen mit komplexeren Formen bewegen. Aber statt diese Formen genau zu beschreiben, ist es effizienter zu sagen, wie sie von einer perfekten Ellipse abweichen – die Ellipse dient als Orientierungspunkt. Das ist eine gute Beschreibung davon, wie angewendete Mathematik funktioniert.

Nehmen wir ein einfaches Beispiel: 1 + 1 = 2.
Selbst diese Rechnung ist streng genommen nur ein Standard. In der Realität sind ja nicht alle Objekte stabil. Wir können also Beispiele finden, in denen auch einfache Additionen nicht funktionieren – Eisklötze etwa, die schmelzen, bevor wir sie alle gezählt haben. Oder zwei Häschen, und dann sind es plötzlich drei – weil sie sich paaren. Auch wenn das Aneinanderfügen von Dingen nicht in arithmetische Berechnungen passt, ist die Addition als Standard sehr nützlich, um viele Prozesse in der Realität zu beschreiben.

Zurück zur Wirtschaft. Vor zehn Jahren erlebten wir einen Crash der Finanzmärkte und danach eine globale Wirtschaftskrise. In der vorherrschenden Wirtschaftswissenschaft hat das jedoch niemand voraussehen, geschweige denn Mittel dagegen finden können. Wieso unterhalten wir Wissenschaften, die einen derart schlechten Job machen?
Auch das ist Teil der Magie der Mathematik. Wir wissen, dass die mathematischen Modelle zur Beschreibung der Wirtschaft sehr limitiert sind; aber wir wissen eben auch, auf welche Weise sie limitiert sind. Berühmt geworden ist die Theorie der Schwarzen Schwäne von Nassim Taleb, der damit schwerwiegende, aber unvorhersehbare Ereignisse wie den Crash von 2008 beschrieben hat. Bei seiner Theorie ging es gerade um die Leerstellen in den Modellen, die sie an der Realität scheitern lassen. Dennoch geniessen diese Modelle wegen ihrer mathematischen Form viel Autorität, weshalb wir uns ihnen verpflichten – sogar wenn es gefährlich ist.

Also kann die Autorität der Mathematik auch schädlich sein?
Auf jeden Fall. Ich sehe heute vor allem zwei Probleme mit der Mathematik: dass sie überschätzt wird, aber auch unterschätzt.

Unterschätzt?
Genau. Das tun wir, wenn wir denken, dass die Mathematik mechanisch, geistlos und unkreativ sei und dass es bei ihr nur darum gehe, blind Regeln zu befolgen. Um komplexe Probleme zu lösen, müssen Mathematikerinnen und Mathematiker neue Bilder und Verknüpfungen finden, neue Arten, ihr Denken zu organisieren. Das ist ein sehr kreativer Prozess. Auf der anderen Seite überschätzen wir die Mathematik, wenn wir sie als eine realitätsgetreue, undurchsichtige und wertfreie Form von Wissen sehen. So ist es sehr einfach, die historischen, politischen oder ideologischen Einflüsse zu verbergen, die bei den Gedankengängen im Spiel waren, die zu ihren Formeln geführt haben. Es ist eines meiner Ziele, solche Prozesse offenzulegen – zu zeigen, dass die Mathematik kein monolithischer Block ist, sondern eine Geschichte hat; dass sie nicht nur als hierarchisches Gebilde erweitert wird, sondern auch Überzeugungen verwirft und ihre Denkarten ändert.

Die Ansicht, dass die Mathematik realitätsgetreu und neutral sei, ist tief in unseren Köpfen verwurzelt. Stehen Sie mit Ihrer Position nicht auf verlorenem Posten?
Es ist tatsächlich schwierig, Leute von dieser Position zu überzeugen – sogar solche, die Philosophie der Mathematik betreiben. In der Philosophie ist meine Herangehensweise, Mathematik als historisches und soziales Phänomen zu untersuchen, eine Aussenseiterposition.

Wieso?
Die meisten Philosophiedepartemente rechtfertigen ihre Existenz damit, dass sie unser Denken und unsere Begriffssysteme rationalisieren oder konsistent machen. Daneben gibt es viele Philosophinnen, die anders arbeiten, oft in literatur- oder kulturwissenschaftlichen Abteilungen. Sie sind nicht Teil dieses Rationalisierungsprojekts, sondern wollen unser Verhalten erklären, ohne anzunehmen, dass wir immer rational oder konsistent handeln.

Und was heisst das für die Haltung gegenüber der Mathematik?
Philosophen, die die Welt vor allem ordnen und vernünftiger machen wollen, tendieren dazu, die Mathematik auf eine zu naive Weise zu verteidigen. Und die anderen, die der Mathematik gegenüber skeptischer eingestellt sind, haben oft eine viel zu simple Vorstellung von ihr, dass sie eben ein blosses Befolgen von Regeln sei.

Der Philosoph Paul Ernest sagt, die Mathematik fördere instrumentelles Denken und das sei schädlich für die Gesellschaft.
Mit dieser Kritik meint Ernest vor allem die Art, wie Mathematik an den Schulen unterrichtet wird. Und dort lernen Kinder eben: Regeln zu befolgen, die Ausgangslage von Problemen nicht zu hinterfragen, den Kontext auszublenden. Sie sollen nicht fragen, wieso da jetzt zwei Züge aufeinander zurasen, sondern berechnen, wann sie sich treffen. Es ist wichtig, dass wir diese Kapazität besitzen. Aber wenn sie zu viel Raum einnimmt, die Schulnoten in Mathematik zum Beispiel so wichtig sind, dass sie über unsere berufliche Zukunft bestimmen, dann ist das problematisch.

An den Mathematikunterricht haben viele keine angenehmen Erinnerungen.
Wenn ich eine Person treffe und sage, ich sei Mathematiker, erhalte ich normalerweise eine Antwort wie: «Oh, Mathematik, darin war ich sehr schlecht.» Oder: «Darüber weiss ich gar nichts.» Aber das stimmt ja gar nicht. Mathematik ist dasjenige Schulfach, in dem die meisten Leute die längste Zeit unterrichtet wurden. Trotzdem würden viele lieber über ein Thema sprechen, von dem sie viel weniger Ahnung haben.

Wieso diese Angst vor der Mathematik?
Mathematik wird so unterrichtet, dass viele von ihr entfremdet werden. Wie löst man ein Problem? Abstrahiere! Löse dich von konkreten Vorstellungen! Vergiss, warum du das gerade tust! In Verbindung mit der Überbewertung der Mathematik wandelt sich diese Entfremdung in Angst.

Sie wollen unsere Sicht auf die Mathematik verändern. Sehen Sie das als ein politisches Unterfangen?
Aber sicher! Ihre Überbewertung beeinflusst Prioritäten, bezüglich akademischer Finanzierung etwa. Aber auch in Bezug auf die Autorität von Wissen. Wenn ich einen Essay veröffentliche und ein paar zufällige, dem Argument nicht dienliche Formeln und Grafen darin platziere, wird er wegen diesen eher ernst genommen. Das sollte nicht so sein.

Anhand des Stable Marriage Problem zeigen Sie in Ihrem Buch, wie heteronormative Vorstellungen die Mathematik beeinflussen. Können Sie kurz erklären, worum es bei diesem Beispiel geht?
Wir haben ein Szenario, in dem eine Gruppe von Männern auf eine Gruppe von Frauen trifft. Die Männer bewerten die Frauen nach ihren Vorlieben und umgekehrt. Nun geht es darum, stabile Paare zu bilden. Das Kriterium dafür ist, dass die beiden sich nicht trennen, um mit jemand anderem zusammenzukommen. Wenn Alice zum Beispiel mit Bob verheiratet ist, kann es zwar sein, dass Bob andere Frauen lieber hätte als Alice, aber solange diese Frauen Bob nicht ihrem Mann vorziehen, wird er bei Alice bleiben.

Dieser Geschichte liegt ein abstraktes spieltheoretisches Problem zugrunde. Sie behaupten nun, dass die Geschlechterstereotype in solchen Geschichten die Lösung des Problems beeinflusst hätten?
Genau. Natürlich könnte dieses mathematische Problem auch ganz abstrakt oder mithilfe anderer Beispiele formuliert werden. Aber üblicherweise wird es als Geschichte wiedergegeben, in der heterosexuelle Männer und Frauen monogame Paare bilden. Und bei den meisten Algorithmen zur Lösung des Problems, die wir in der Literatur finden, nehmen die Männer die aktive Rolle ein: Sie machen Anträge, und die Frauen nehmen sie an oder weisen sie zurück. Wenn man sich die Geschichte der Lösungsansätze anschaut, ist es plausibel anzunehmen, dass stereotype Vorstellungen von Geschlechterrollen die Resultate beeinflusst haben.

Woran erkennen Sie das?
In den neunziger Jahren hat ein Mathematiker eine Lösung so formuliert, dass beide Geschlechter Anträge machen und darauf reagieren. Das hat ihm ermöglicht, ein Problem zu lösen, das vierzehn Jahre zuvor aufgestellt worden war. Die gleiche Beobachtung lässt sich auch bei anderen mathematischen Problemen machen. Es gibt zum Beispiel eines, bei dem Männer und Frauen um einen Tisch platziert werden müssen, wobei gewisse Kombinationen vermieden werden sollen. In den achtziger Jahren kamen zwei Mathematiker auf eine völlig neue Lösung des Problems – nur weil sie die Idee hatten, die Männer nicht zuerst an den Tisch zu setzen, wie es der traditionellen Etikette entspricht.

Erstaunlich, dass zuvor niemand auf die Idee gekommen war.
Wenn man daran denkt, wie diese Gesellschaft immer noch über Frauen und Männer denkt, ist das nicht erstaunlich. Aber ich behaupte nicht, dass deswegen die ganze Mathematik ein Gender-Bias hat – auf die meisten ihrer Probleme trifft das nicht zu. Mein Punkt ist, dass nichtmathematische Vorstellungen mathematische Probleme und Lösungen beeinflussen.

Es gibt starke Ressentiments dagegen, identitätspolitische Fragestellungen auf «harte» Naturwissenschaften oder die Mathematik anzuwenden. Womit hat das zu tun?
Für viele Leute ist es wichtig, dass die Welt auf einem absoluten und wertfreien Fundament steht. Es ist sehr einfach, der Mathematik diese Rolle zuzuweisen. Aber das lässt sich nur rechtfertigen, wenn man ignoriert, wie sie tatsächlich funktioniert.

Wieso schreiben Leute, die von Mathematik keine Ahnung haben, ihr eine solche Rolle zu?
Grundsätzlich ist es einfacher, etwas Falsches auf etwas zu projizieren, das man nicht kennt. Aber auch das hat mit der Art zu tun, wie uns Mathematik unterrichtet wird. In der Schule lernen wir die Mathematik vor allem über die Arithmetik kennen, die wir mit der Zeit für natürlich und absolut halten; deshalb denken wir, dass es sich mit der ganzen Mathematik so verhält. Dabei klammern wir aus, dass die Arithmetik schwer zu beherrschen ist und es eine lange Ausbildung erfordert, bis sie uns natürlich erscheint.

Nimmt die Mathematik als absolutes Fundament der Welt eine religiöse Funktion ein?
Das könnte man sagen. Der Säkularismus der europäischen Moderne ist ein Projekt, Gott durch Regeln zu ersetzen. Dafür brauchen wir Regeln, die so stark sind wie Gott. Aber ich denke nicht, dass wir ein natürliches Bedürfnis nach einem solchen Fundament haben.

Kann dieses absolute Vertrauen in Wissenschaft auch gefährlich sein? Vielleicht sind Verschwörungstheorien, die das Vertrauen in die Klimawissenschaft unterwandern, eine Reaktion darauf …
Diese Frage will ich nicht grundsätzlich beantworten – der Glaube an etwas Absolutes kann uns retten oder zerstören. Vielleicht ist es gefährlich, was ich über die Mathematik sage, weil es die Autorität der Wissenschaft untergräbt, etwa in Bezug auf den Klimawandel. Vielleicht sollte ich also einfach die Klappe halten und den Mythos unterstützen, dass die Mathematik unserem Wissen eine absolute Basis gibt. Vielleicht hat hingegen eine Gesellschaft, die kein absolutes Fundament braucht und unser Wissen als relativ und in ständigem Austausch versteht, ein stärkeres Bewusstsein für die Welt als Ökosystem, das wir erhalten müssen.

Gegenüber den «harten» Wissenschaften geniessen «weiche» wie zum Beispiel die Genderstudies heute bei vielen einen schlechten Ruf, werden sogar regelmässig angegriffen. Womit hat das zu tun?
Im Fall der Genderstudies gibt es dafür eine einfache Erklärung: ein Verteidigungsmechanismus. Männer verteidigen ihren Status als Männer; sie wollen nicht zugeben, dass sie Teil des Problems sind; dass sie stark verwickelt sind in etwas sehr Falsches.

Wieso fühlen sich Männer von einer Professorin bedroht, die an einer weit entfernten Universität zu Gender forscht?
Weil es eben nicht nur um diese Professorin geht. Zum Glück hat der Feminismus es geschafft, seine Ideen ausserhalb der Universitäten zu verbreiten. Indem diese Professorin angegriffen wird, werden auch andere aktivistische feministische Gruppen, die zum Beispiel für Lohngleichheit kämpfen, diskreditiert, auch wenn sie mit dieser Professorin und ihren Theorien gar nichts zu tun haben. Unterschiedliche feministische Ansätze werden alle über einen Leisten geschlagen, um die Erfolge des Feminismus als Ganzes anzugreifen.

Rechtspopulistische Politiker führen gerade einen Gegenangriff gegen den Feminismus. Beobachten Sie solche Prozesse auch in der akademischen Welt?
Hier laufen solche Prozesse sehr subtil ab. Fast alle Professoren der ETH würden der Aussage zustimmen, dass mehr Frauen eingestellt werden sollen. Auch würden sie zustimmen, dass Frauen im akademischen Betrieb diskriminiert werden oder dass sie mehr Verantwortung für die Kinderbetreuung tragen. Aber wenn es um eine konkrete Berufung geht, wird es komplizierter. Wessen man sich zu wenig bewusst ist: Wenn das Profil eines Lehrstuhls definiert wird, werden die Kriterien und der Forschungsschwerpunkt oft bereits so festgelegt, dass sich mehr Männer um die Stelle bewerben.


Ist das für Sie persönlich eine schwierige Frage? Sie wurden 2016 als Mann auf einen neu geschaffenen ETH-Lehrstuhl berufen.
Ja … Dass ich berufen wurde, ist genau ein Beispiel für jenes Problem: Mit dem Fokus auf Geschichte und Philosophie der mathematischen Wissenschaften war zu erwarten, dass sich mehr Männer auf die Stelle bewerben. Bei einer anderen Ausrichtung würde hier nun vielleicht eine Frau sitzen. Insofern, als ich den Job angenommen habe, bin ich Teil des Problems. Männer können auch Teil der Lösung sein, wenn sie sich Frauen und feministischen Anliegen gegenüber solidarisch verhalten, aber das heisst nicht, dass sie aufhören, Teil des Problems zu sein.

Mathematiker und Philosoph

Roy Wagner (45) begann schon als Jugendlicher, an der Universität Tel Aviv Mathematik zu studieren; mit 24 schloss er das Fach mit dem Doktortitel ab. Mit Geisteswissenschaften und insbesondere Philosophie beschäftigte er sich zunächst vor allem aus politischem Interesse. An der Universität Tel Aviv gründete er eine Lesegruppe zu Queertheorie und engagierte sich als Aktivist für eine Arbeiterhilfeorganisation. Nach akademischen Aufenthalten in Paris, Cambridge, Boston und Berlin ist Wagner seit 2016 Professor auf dem neu geschaffenen Lehrstuhl für Geschichte und Philosophie der Mathematischen Wissenschaften an der ETH Zürich.

Für einen Wissenschaftstheoretiker eher unüblich, veröffentlichte er bis vor einigen Jahren immer wieder akademische Aufsätze zu politischer Theorie: etwa eine deleuzianische Analyse von Videos der israelischen Besatzung in Palästina, einen Aufsatz über die Repräsentation von migrantischen Arbeiterinnen in der hebräischen Sprache oder solche zu verschiedenen Formen von Widerstand gegen die staatliche Ordnung. In seiner Doktorarbeit in Philosophie wagte er eine poststrukturalistische Lektüre des Gödelschen Beweises für dessen Unvollständigkeitstheorem.