Krise in Venezuela: Im Land der zwei Präsidenten

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Wie kam es, dass sich Juan Guaidó zum Präsidenten von Venezuela ernannte? Der Schritt kam keineswegs aus dem Nichts, und Guaidós internationale Unterstützer verfolgen vorwiegend eigene Interessen. Das gilt auch für die Unterstützer Maduros, des anderen Präsidenten.

US-Präsident Donald Trump musste sein Mobiltelefon schon in Griffweite gehabt haben, als am Mittwoch vergangener Woche Juan Guaidó vor mehreren Zehntausend DemonstrantInnen in Caracas die Hand zum Schwur erhob: Kaum hatte Guaidó den Mund zugemacht, da war seine Anerkennung als «rechtmässiger Präsident» Venezuelas von Washington aus via Twitter auch bereits in die Welt posaunt.

Trumps Lakaien unter den Präsidenten Lateinamerikas stimmten schnell ein: Brasiliens neofaschistischer Jair Bolsonaro und Kolumbiens rechtsextremer Iván Duque, Argentiniens neoliberaler Milliardär Mauricio Macri und der Putschist Jimmy Morales aus Guatemala. Es mag irritieren, dass sich auch eher gemässigte Präsidenten wie Kanadas Justin Trudeau oder Ecuadors Lenín Moreno in die Liste der Trump-Follower eintrugen. Bei Letzterem dürften jedenfalls innenpolitische Gründe ausschlaggebend gewesen sein: Hunderttausende venezolanische Flüchtlinge sind derzeit in Ecuador gestrandet, die Bevölkerung murrt.

Guaidós Griff nach der Macht mag zunächst eher symbolisch zu verstehen sein. Das Drehbuch aber erinnert fatal an frühere Zeiten, als der US-Geheimdienst CIA in Lateinamerika Staatsstreiche noch fast nach Belieben erzwang. «Ungeachtet aller Vorbehalte und Kritik, die man gegenüber der Regierung von Präsident Maduro haben kann: Die Einmischung der USA ist nicht akzeptabel», sagte denn auch Héctor Vasconcelos, der Vorsitzende des Komitees für auswärtige Angelegenheiten im mexikanischen Senat.

Der Coup kam zwar überraschend, war aber schon lange in Planung. Nachdem Präsident Nicolás Maduro 2017 die Massendemonstrationen gegen seine Regierung blutig hatte niederschlagen lassen, schien die Opposition paralysiert; Maduro nutzte dies in einer eilends für den Mai 2018 einberufenen Wahl, bei der ihn 68 Prozent der WählerInnen für weitere sechs Jahre im Amt bestätigt haben sollen. Das Mindeste, was man von dieser Wahl sagen kann, ist, dass sie nicht fair war. Oppositionsparteien waren ausgeschlossen worden, prominente OppositionspolitikerInnen befanden sich in Haft oder im Exil. Mit dieser Wahl aber begann auch die Vorbereitung auf den Mittwoch vergangener Woche.

Ein Treffen in Washington

Das Wahlergebnis wurde weder von den USA noch von der Europäischen Union oder der sogenannten Lima-Gruppe – dreizehn lateinamerikanische Staaten plus Kanada – anerkannt. Das spielte damals keine Rolle, Maduro galt auch in diesen Ländern als rechtmässiger Präsident. Seine aus der umstrittenen Maiwahl resultierende Amtszeit begann erst jetzt, am 10. Januar. Bis dahin konspirierte die Regierung Trump mit der Voluntad Popular (Volkswille), einer Partei um den unter Hausarrest stehenden Leopoldo López ganz am rechten Rand des oppositionellen Spektrums. Zu den Gründungsmitgliedern dieser Partei gehörte 2009 auch Juan Guaidó. Seither fungierte der heute 35-jährige, in Venezuela und den USA ausgebildete Wirtschaftsingenieur als rechte Hand des Parteichefs.

Gemäss Recherchen der «New York Times» zog die US-Regierung zunächst einen klassischen Militärputsch in Erwägung: Es fanden Treffen ihrer Abgesandten mit dissidenten Militärs statt. Allem Anschein nach aber schätzten die PutschstrategInnen aus Washington die Stärke der Maduro-GegnerInnen als zu gering ein, weshalb sie sich auf eine politische Variante verlegten. Marco Rubio, der republikanische Senator und Rechtsaussen in allen Lateinamerikafragen, brachte ein Treffen Trumps mit Lilian Tintori, der Ehefrau von Leopoldo López, zustande. Jener soll von ihr sehr angetan gewesen sein: «Der Präsident reagiert auf die menschliche Seite», sagte Rubio der «New York Times». «Als er sie traf und hörte, hat ihn das beeindruckt.» Das Feld war bereitet.

Am 5. Januar schlug dann die Stunde des vorher eher im Schatten stehenden Guaidó. An diesem Tag wurde er zum Präsidenten des von Maduro längst entmachteten Parlaments gewählt. Das Amt verschaffte ihm die scheinbar legale Voraussetzung für die Selbsternennung zum Präsidenten der Republik: Der Artikel 233 der Verfassung sieht vor, dass beim Ausscheiden eines Präsidenten – sei es durch Tod, Rücktritt oder Absetzung – der Parlamentspräsident übergangsweise dessen Aufgaben übernimmt. Da die Opposition die Wahl Maduros vom vergangenen Mai nicht anerkennt, gibt es nach ihrer Lesart derzeit keinen Präsidenten. Demnach wäre Guaidós Griff nach der Macht legal.

Das Wirtschaftsdesaster als Chance

Das ist jedoch bloss legalistische Tarnung. In Wahrheit scheren sich weder Regierung noch Opposition um die Verfassung. Beiden geht es nur um die Macht. Die Opposition hat den Wahlsieg von Hugo Chávez 1998 und dessen Umbau Venezuelas von einem Bereicherungsstaat für die Oligarchie zu einem paternalistischen Verteilungsstaat nie verwunden. Jetzt, in der tiefen Wirtschaftskrise unter dem Chávez-Nachfolger Maduro, wittert sie Morgenluft. Zwar hat auch sie keinen Plan, wie die rasende Inflation – der Internationale Währungsfonds erwartet für 2019 zehn Millionen Prozent – gebremst und die Armut der Massen gelindert werden könnte. Das Desaster freilich wird Maduro angelastet, und genau darin liegt die Chance der Opposition.

Hilfe von aussen ist ihr sicher. Aber auch Maduro hat internationale Verbündete, allen voran China und Russland, die sich in erster Linie für das im Boden liegende Erdöl interessieren. Venezuela verfügt über die weltweit grössten Reserven, und China und Russland haben die Milliardenkredite, mit denen sie die Regierung Maduro in den vergangenen Jahren vor dem Untergang bewahrten, mit künftig fälligen Erdöllieferungen abgesichert. Mit Maduro würden auch diese Garantien fallen.

In den USA wird Maduros Sturz ebenfalls nicht nur aus ideologischen Gründen herbeigesehnt, es gibt genauso handfeste Interessen. So hat der 2007 von Chávez enteignete Energiekonzern Conoco-Phillips im vergangenen August vor der Weltbank-Schiedsstelle für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten eine Abfindung von zwei Milliarden US-Dollar erstritten. In einem zweiten Verfahren geht es um bis zu sechs Milliarden Dollar. Auch die ManagerInnen von Conoco-Phillips wissen, dass das für Venezuela unbezahlbar wäre. Im Fall eines Sturzes von Maduro hingegen hätten sie mit einem entsprechenden Schiedsspruch als Erste Zugang zu den Ölreserven des Landes.

Das Leiden der Bevölkerung spielt bei diesem Machtpoker keine Rolle. Dass laut Umfragen nur noch fünfzehn Prozent der VenezolanerInnen hinter Maduro stehen, ist angesichts der Wirtschaftskrise kein Wunder. Über drei Millionen Menschen haben das Land schon verlassen. Wie stark der Rückhalt für Guaidó ist, muss sich erst noch herausstellen. Am Mittwoch vergangener Woche haben zwar Zehntausende demonstriert. Aber es ist eine Sache, gegen die Regierung Maduro auf die Strasse zu gehen, und eine andere, es für Guaidó zu tun. Kaum war nach der Selbsternennung sein internationaler Unterstützerkreis bekannt, blieben die Menschen zu Hause. Eine Volksbewegung für ihn hat sich noch nicht entzündet. Nun hat er für Mittwoch (nach Redaktionsschluss dieser WOZ) und Samstag zu weiteren Demonstrationen aufgerufen.

Die Optionen des Donald Trump

Auf die Bevölkerung allein will sich Guaidó nicht verlassen, er umwirbt das Militär. «Es wird eine Amnestie für all diejenigen geben, die uns unterstützen», stellte er in Aussicht. Auch Lilian Tintori, die Ehefrau von Parteichef Leopoldo López, setzt auf die Armee: «Wir haben keine Waffen, also brauchen wir das Militär.» Sollte sich dieses nicht überzeugen lassen, gibt es immer noch Donald Trump. Dieser twitterte bereits mehrfach, dass «alle Optionen auf dem Tisch liegen, die ganz harten und die weniger harten». Und man wisse ja, was er meine, wenn er von «ganz harten Optionen» spreche.

Das von der EU gestellte Ultimatum ist in dieser Situation alles andere als hilfreich: Maduro müsse bis Ende der Woche Neuwahlen ausschreiben, sonst werde auch die EU Guaidó als Präsidenten anerkennen, hiess es von offizieller Stelle. Als mögliche Vermittlerin scheidet sie damit aus. Einzig Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador kommt dafür noch infrage. Dieser sagte, er sei «weder dafür noch dagegen», und forderte: «Keine Intervention, Selbstbestimmung des Volkes, friedliche Beilegung des Konflikts, Respekt vor den Menschenrechten.» Maduro hat sich zum Dialog bereit erklärt. Das hat er schon oft getan – und dann doch nur die Opposition an der Nase herumgeführt.