Literaturtage: Im schwarzen Coronaloch

Nr. 21 –

Die 42. Solothurner Literaturtage finden im Netz statt. Kann das funktionieren? Und was bedeutet es für die AutorInnen?

Gedämpfte Vorfreude: Schriftstellerin Romana Ganzoni im «Bergnest» Celerina statt vor Publikum in Solothurn. FOTO: FABIO ARESU

Die Freude war riesig bei der Engadiner Autorin Romana Ganzoni, als sie an die diesjährigen Literaturtage in Solothurn eingeladen wurde: «Von Zürich aus gesehen lebe ich hier in meinem Bergnest in einer Randregion. Ich bin nicht vor Ort, wenn etwas läuft, bin nicht vernetzt und kenne die meisten Leute aus der Literaturbranche nur vom Hörensagen.» Ihren im vergangenen Herbst erschienenen Roman «Tod in Genua» in Solothurn präsentieren zu können, war für sie eine einmalige Gelegenheit: Hier würde sie nicht nur vor einem Publikum auftreten, das aus der ganzen Schweiz anreist, sondern auch Verlegerinnen, Journalisten und andere Autorinnen persönlich kennenlernen.

Keine Lesungen vor der Webcam

Doch die Pandemie hat ihre Vorfreude gewaltig gedämpft. Denn der grösste und wichtigste Anlass für Schweizer Literatur kann dieses Jahr nicht wie üblich stattfinden. Kein Flanieren durch die Solothurner Gassen, keine rotweingetränkten Diskussionen im Restaurant Kreuz, kein Austausch von Ideen zu neuen Projekten mit Gleichgesinnten – stattdessen wurden die Literaturtage, wie so vieles, ins Netz verlegt.

Kann das gut gehen? Kann ein Festival, das so stark von der physischen Präsenz der Menschen lebt, im Netz überhaupt funktionieren?

«Das Onlinefestival ist ganz klar kein Ersatz für die realen Literaturtage», sagt Geschäftsführerin Reina Gehrig. «Und natürlich war eine Option, das Festival ganz abzusagen – es wäre wohl sogar die einfachere Entscheidung gewesen.» Doch sie fühle sich verantwortlich dafür, den AutorInnen eine Plattform zu bieten, denn: «Da ist ein ganzer Jahrgang von Büchern erschienen, der praktisch tot ist – keine Messen, keine Lesungen, keine Plattformen, keine Aufmerksamkeit, keine Einnahmen für die Autorinnen und Autoren.» Gerade deswegen sei es wichtig, dass die Literaturtage trotzdem stattfänden.

Einer, der weiss, wovon Gehrig spricht, ist der in Genf lebende deutsche Autor Christoph Höhtker . Sein Roman «Schlachthof und Ordnung» ist Mitte Februar erschienen und läuft Gefahr, im schwarzen Coronaloch zu verschwinden. «Natürlich kann man nicht sagen, wie das Buch laufen würde, wenn Corona nicht wäre», sagt Höhtker, «doch bis jetzt ist dieses Buch schlecht gelaufen – schlechter, als ich gedacht hatte.» Während sein letzter Roman, «Das Jahr der Frauen» (2017), der es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hatte, sowohl in der Schweiz wie auch in Deutschland viel mediale Aufmerksamkeit und Lob erhalten hatte, blieb es um sein neues Buch bisher ziemlich still. Alle Veranstaltungen rund um sein Buch wurden abgesagt – gerade für ein Buch von einem Kleinverlag sind diese jedoch wichtig.

Dass die Literaturtage nun im Netz stattfinden, findet er schon in Ordnung – er wird unter anderem an einem Literaturgespräch teilnehmen –, aber auch nicht besonders originell: «Man verlegt so ein bisschen was ins Netz, damit man auch etwas anbieten kann. Doch das kann kein Ersatz sein. Ausserdem sind die Leute überfüttert mit Onlineveranstaltungen, niemand schaut sich das noch an.»

Auf zum Lyrikspeeddating!

Dieses Problems ist sich Reina Gehrig durchaus bewusst. «Aus diesem Grund haben wir uns dagegen entschieden, einfach Lesungen zu streamen. Wir setzen die Vermittlung der Literatur ins Zentrum – die ist ja auch ein wichtiger Aspekt der regulären Literaturtage.»

Konkret sieht das so aus: Das Onlinefestival ist in zwei Teile gegliedert. Seit dem 14. Mai werden kontinuierlich Text-, Video- oder Tonbeiträge online gestellt, die die eingeladenen AutorInnen im Vorfeld verfasst und mit technischer Unterstützung der Literaturtage produziert haben. Vom 22. bis am 24. Mai werden dann Liveveranstaltungen im Netz übertragen. Es gibt Podien, Diskussionen, Zwiegespräche – die BesucherInnen können sich online zuschalten, Fragen stellen und mitdiskutieren. Auch ein Lyrikspeeddating, Instantdichten, ein Comicworkshop, ein interaktiver Spielabend sowie ein «Club +», in dem LeserInnen mit AutorInnen deren Neuerscheinung diskutieren können, sind programmiert. Bei manchen Veranstaltungen ist die TeilnehmerInnenzahl beschränkt, einige sind bereits ausgebucht, gratis sind alle.

Dass die Literaturtage nicht einfach durch Webcamlesungen mit Wohnzimmeratmosphäre ersetzt werden, sondern die Veranstalterinnen die interaktiven Möglichkeiten ausschöpfen, die es online gibt, begrüsst der Berner Autor Giuliano Musio . «Die Veranstalterinnen haben umgedacht, sich der Situation angepasst und das Beste daraus gemacht», sagt Musio, der online unter anderem als «Instantdichter» auftreten wird.

Musios zweiter Roman, «Wirbellos», ist im Herbst erschienen und hat bereits viel Aufmerksamkeit und gute Kritiken erhalten. Dieses Jahr sollte Musio an fünf Literaturfestivals auftreten, zudem wären mehrere kleinere Lesungen sowie sechs Konzerte, für die er den Text verfasst hat, geplant gewesen. «Dass die Pandemie ausgerechnet auf das Jahr fallen muss, in dem es für mein Schreiben so gut läuft wie noch nie, war am Anfang natürlich schon etwas enttäuschend – zumal die nächste Chance ja im besten Fall erst wieder mit dem nächsten Buch kommt, also in ein paar Jahren», sagt Musio.

Inzwischen sehe er es aber wieder entspannter, zum befürchteten Stillstand sei es nicht gekommen. Er konnte an Onlineprojekten teilnehmen und wurde für Auftragstexte angefragt. Ob er Ausfallentschädigung beantrage, die der Bund betroffenen Kulturschaffenden auszahlt, hänge davon ab, ob und in welcher Form die geplanten Festivals stattfinden würden. Ausserdem hat Musio durch seine Anstellung als Korrektor weiterhin ein regelmässiges Einkommen.

Holzwolle im Kopf

Auch Christoph Höhtker hat eine feste Anstellung: «Würde ich vom Schreiben leben, könnte ich mir nicht einmal eine Banane leisten», sagt der Autor trocken, «auch ohne Corona.» Ökonomische Überlegungen hätten beim Entscheid, die Literaturtage online stattfinden zu lassen, auch eine Rolle gespielt, sagt Reina Gehrig: «Alle Autorinnen und Autoren erhalten ihre Honorare, und sie hätten sie auch erhalten, wenn sich jemand gegen eine Teilnahme entschieden hätte. Es wurde allen freigestellt mitzumachen. Ausserdem bezahlen wir die Techniker und die Fotografinnen, die für uns arbeiten, die Grafiker, die Übersetzerinnen. Hätten wir die Literaturtage ausfallen lassen, wären diese Honorare auch ausgefallen.»

Romana Ganzoni sammelt zwar Belege für all die ausgefallenen Veranstaltungen, doch da die meisten als «verschoben» angekündigt sind, weiss sie nicht, ob und wann sie Ausfallentschädigung bekommt. Kurz vor dem Shutdown ist die dritte Auflage ihres Romans gedruckt worden, sie befürchtet, dass diese liegen bleibt. «Allerdings bin ich privilegiert, denn ich lebe zurzeit nicht vom Schreiben», sagt sie, «Ich kenne andere, die jetzt am Existenzminimum sind.» Das bereite ihr Sorgen.

Überhaupt sorgt sie sich um die Zukunft der Literaturbranche: «Ich habe Angst vor dem Herbst, wenn sich dort alles türmt. Es erscheinen neue Bücher, zusätzlich nehmen die Verlage die Frühlingsbücher nochmals ins Herbstprogramm auf. Gibt es dann einen Overkill?» Und: «Wird es Verlage oder Buchläden geben, die diese Zeit nicht überstehen?» Sie selber habe zurzeit das Gefühl, Holzwolle im Kopf zu haben, so Ganzoni. Das Denken falle ihr schwer, das Schreiben erst recht. Und doch freue sie sich nun riesig auf die Teilnahme an den Online-Literaturtagen. Sie habe bei allen Veranstaltungen, für die sie angefragt worden sei, zugesagt. Und es hätten sich dadurch auch bereits neue Kontakte ergeben.

Die Online-Literaturtage finden Sie unter www.literatur-online.ch, Kurzbesprechungen der Werke von Romana Ganzoni , Christoph Höhtker , Olivia Wenzel , Tom Kummer und Giuliano Musio lesen Sie per Klick auf den AutorInnennamen.