El Salvador: Willkürlich in die Quarantäne verschleppt

Nr. 22 –

Wie Präsident Nayib Bukele die Coronakrise nutzt, um sich mithilfe des Militärs zum Diktator von El Salvador aufzuschwingen.

Wird zu Massakern führen: Angehörige verfeindeter Maras werden in dieselben Zellen gepfercht, dem Präsidenten ists zumindest egal. Foto: El Salvador Presidential Press Office

Die Fotos, die El Salvadors Präsident über Twitter verbreitete, erinnern an die dunkelsten Zeiten lateinamerikanischer Militärdiktaturen. Hunderte von Männern mit kahl rasierten Schädeln sind da zu sehen, nur mit Boxershorts bekleidet. Viele, aber nicht alle, tragen einen Mundschutz. Sie sitzen in langen Reihen in einer Halle, jeder die Beine um den Vordermann gelegt, das Gesicht auf dessen Rücken. Physische Distanzierung in Coronazeiten sieht anders aus. Soldaten in Kampfmontur bewachen mit halbautomatischen Gewehren die Häftlinge. «Sie werden drinnen bleiben in der Dunkelheit», twitterte der Präsident. Ein Racheakt dafür, dass am Tag zuvor im zentralamerikanischen Staat 23 Menschen ermordet worden waren.

Die Häftlinge auf den Fotos sind Mitglieder der Maras genannten Banden; die 23 Morde lastet der Präsident ihren Kumpanen draussen in Freiheit an. Den Soldaten, die auf den Strassen des Landes patrouillieren, befahl er, «tödliche Gewalt» gegen alle anzuwenden, die sie für Mitglieder einer dieser Maras und für eine Gefahr hielten. Im Gefängnis wurden die miteinander in Todfeindschaft liegenden Banden zusammen in dreifach überbelegte Zellen mit bis zu hundert Häftlingen gepfercht. Dass dies über kurz oder lang zu Massakern führen wird, ist dem Präsidenten egal, vielleicht sogar recht.

Keine Krawatte, kein Parteiprogramm

Am 1. Juni ist Nayib Bukele ein Jahr Präsident von El Salvador. Er hat noch vier Jahre vor sich. Aber dieses eine Jahr hat ihm gereicht, um das kleine Land mit seinen gut sechs Millionen EinwohnerInnen in eine auf das Militär gestützte Diktatur zu verwandeln. Die Coronakrise kam ihm dazu gerade recht.

Bukele, ein 38-jähriger Werbefachmann aus einer steinreichen Familie, ist vor einem Jahr gewählt worden, weil die beiden Parteien, die seit dem Ende des Bürgerkriegs 1992 die nationale Politik bestimmt hatten, tief im Korruptionssumpf steckten. Zwei Präsidenten der ultrarechten Arena-Partei hatten während ihrer Amtszeit genauso tief in die Staatskasse gegriffen wie einer von der linken ehemaligen Guerilla FMLN. Keiner hatte es geschafft, die tödliche Gewalt der Maras, die das Land mit Bandenkämpfen und flächendeckender Schutzgelderpressung zu einem der gefährlichsten Länder der Welt machen, auch nur einigermassen in den Griff zu bekommen.

Bukele hatte zwar auch kein Programm und sprach nur vage von «neuen Ideen», aber er war ein neues Gesicht, mit akkurat getrimmtem Vollbart und viel Gel im zurückgekämmten schwarzen Haar. Er trägt so gut wie nie Krawatte, dafür auffällige knallbunte Socken. Dass er vorher schon für die FMLN Bürgermeister der Hauptstadt San Salvador gewesen war und sich für die durch und durch korrupte Rechtspartei Gana um die Präsidentschaft bewarb, spielte keine Rolle. Er verkaufte nie ein Parteiprogramm, sondern sich selbst und benutzte FMLN und Gana nur, weil die salvadorianischen Wahlgesetze keine unabhängigen KandidatInnen vorsehen. Er gab keine Interviews, hatte nur wenige öffentliche Auftritte und führte seinen Wahlkampf vor allem auf Internetplattformen. Dabei liess er sich von einem Heer von Trollen unterstützen, die Fake News verbreiteten, was vor allem internetgläubige Jüngere ansprach, die vorher meist nicht gewählt hatten.

Totalitärer Lockdown

Man mag Bukele zugutehalten, dass er als einer der ersten lateinamerikanischen Präsidenten auf die Coronapandemie reagiert hat. Schon am 11. März wurde der nationale Notstand verhängt, Grenzen, Läden und Fabriken geschlossen. Nun fährt kein Bus mehr und kein Taxi, die Menschen dürfen ihr Haus nur an zwei Tagen in der Woche für Einkäufe verlassen und müssen dabei innerhalb ihrer Gemeindegrenzen bleiben. Wen welcher Tag trifft, wird von der Endziffer der Nummer des Personalausweises bestimmt. Wie das in einem Land funktionieren soll, in dem die Hälfte der Bevölkerung in der informellen Wirtschaft arbeitet und mit dem Verdienst von einem Tag gerade den nächsten überlebt, hat der Präsident nicht erklärt. In den Armenvierteln hängen immer mehr Familien weisse Tücher in die Fenster ihrer Hütten, um zu zeigen: Wir haben Hunger.

Wer vom Militär auf der Strasse erwischt wird, obwohl er dort nach dem Willen des Präsidenten nicht sein darf, kommt in ein Quarantänezentrum. Für arme Leute sind das Sport- und Versammlungshallen, für reichere Hotels. Mindestens 4000 Menschen sind dort eingeschlossen, viele schon seit über vierzig Tagen, obwohl ein präsidiales Dekret dreissig Tage vorschreibt. Der Willkür sind bei solchen Verhaftungen keine Grenzen gesetzt. So wurde in einem Armenviertel von San Salvador eine Frau verhaftet, weil sie ihr Kind in der Nacht auf eine Latrine begleitet hatte. Wer im Auto erwischt wird, dessen Fahrzeug wird beschlagnahmt. Soldaten dürfen jederzeit in Wohnungen eindringen, wenn sie darin einen Coronainfizierten vermuten. Der wird dann ebenfalls ins Quarantänezentrum verschleppt.

Ob die brutale Strategie Erfolg hat, ist schwer zu beurteilen. Offiziell gibt es rund 1500 Infizierte und keine drei Dutzend Tote. Aber es wird so gut wie niemand auf das Virus getestet. ÄrztInnen sagen, unter dem medizinischen Personal sei die Zahl der Coronakranken besonders hoch, weil sie nur jeden dritten Tag eine einfache Chirurgenmaske bekämen.

Das Verfassungsgericht ist schon verschiedene Male gegen präsidiale Dekrete vorgegangen. So seien die Verschleppungen in Quarantänezentren oder das Beschlagnahmen von Autos ohne gesetzliche Grundlage verfassungswidrig. Auch die Verlängerung des Notstands am 16. Mai ohne Zustimmung des Parlaments war ein offener Verfassungsbruch. Bukele ignoriert diese Urteile. «Fünf Männer haben nicht über den Tod von Hunderttausenden Salvadorianern zu entscheiden», twitterte er. Er entscheidet lieber allein.

Einzig das Militär hält fest zu ihm

Selbst einstige UnterstützerInnen wie der Verfassungsrechtler Fabio Castillo, einer der prominentesten Anwälte des Landes, distanzieren sich inzwischen von Bukele. Castillo spricht vom «Versuch eines Staatsstreichs». Und José Miguel Vivanco, der Lateinamerikachef der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, sagt: «Wir müssen darauf achten, dass sich El Salvador nicht in eine Diktatur verwandelt.»

Einzig das Militär steht fest zum Präsidenten. Es hatte in den Jahrzehnten des Bürgerkriegs das Sagen. Mit dem Friedensvertrag von 1992 aber wurde es zusammengestutzt und seine Funktion auf die Verteidigung der Aussengrenzen beschränkt. Im Zusammenhang mit der Verbrechensbekämpfung bekam die Armee zwar langsam wieder mehr Einfluss. Bukele aber hat nicht nur ihren Etat erhöht, er hat ihr auch die Macht zurückgegeben, die sie einst hatte. Das Militär kontrolliert wieder das Land und kann faktisch straffrei operieren.

Das zeichnete sich schon vor der Coronakrise ab. Am 9. Februar, als das Virus noch fern von Lateinamerika war, liess Bukele das Parlament von Soldaten in Kampfmontur und mit Sturmgewehr besetzen. Er wollte das Parlament mit Waffengewalt dazu zwingen, ihm die Genehmigung über einen Kredit von 109 Millionen US-Dollar zu erteilen. Der grösste Teil des Geldes sollte der Armee zugutekommen, angeblich zur Verbrechensbekämpfung. Schon damals sprachen MenschenrechtsanwältInnen von einem versuchten Staatsstreich.

Inzwischen regt sich vorsichtiger Protest – unter den Bedingungen der Quarantäne. Seit der zweiten Maiwoche schlagen jeden Abend um 20 Uhr in der Hauptstadt die Eingeschlossenen auf Töpfe oder drücken auf die Hupe ihrer Autos.

Die Präsidentinnen Lateinamerikas : Wer die Pandemie ausnutzt – und wer sie im Griff hat

Nayib Bukele ist nicht der einzige Präsident Lateinamerikas, dem die Coronakrise und die damit verbundenen Einschränkungen von Freiheitsrechten in die Hände spielen. Ein paar Beispiele: In Chile ist es dem rechten Präsidenten Sebastián Piñera gelungen, die fünf Monate anhaltenden täglichen Demonstrationen gegen seine Regierung und ihre neoliberale Politik zu ersticken (siehe WOZ Nr. 15/2020 ).

Im nördlichen Nachbarland Bolivien versucht die selbsternannte Übergangspräsidentin Jeanine Áñez, Neuwahlen mit dem Argument des Gesundheitsnotstands immer weiter zu verschieben. Die extrem rechte Politikerin war im November vergangenen Jahres bei einem Putsch gegen den linken Präsidenten Evo Morales an die Macht gekommen und hatte zunächst Neuwahlen am 2. Mai versprochen. Inzwischen wurde der Notstand bis zum 30. Mai verlängert, Proteste dagegen wurden vom Militär niedergeschlagen. Das Parlament hat nun beschlossen, die Wahl müsse spätestens bis zum 2. August stattfinden. Áñez versucht, juristisch dagegen vorzugehen. In Umfragen liegt der Kandidat der Bewegung zum Sozialismus (MAS), der Partei des gestürzten Morales, deutlich vorn.

In Honduras profitiert der rechte Präsident Juan Orlando Hernández auf ganz andere Art von der zwangsverordneten Schliessung des Landes. Ende April kam sein ehemaliger Polizeichef Juan Carlos Bonilla in den USA wegen Drogenhandel vor Gericht. Er soll im Auftrag der Brüder Juan Antonio und Juan Orlando Hernández Tonnen von Kokain in die Vereinigten Staaten geschleust haben. Juan Antonio wurde deshalb schon von einem US-Gericht verurteilt. Juan Orlando wären nun – wieder einmal – Massenproteste gegen seine Präsidentschaft sicher gewesen. Die Coronaquarantäne hat sie unterbunden.

Einzig Daniel Ortega in Nicaragua tut gar nichts. Schulen und Läden sind geöffnet, Massenveranstaltungen finden statt. Der Präsident tut so, als würde sein Land wie durch ein Wunder von der Pandemie verschont. Nichts darf der Wirtschaft schaden, die sich nach Massenprotesten gegen Ortegas autokratische Regierung in den Jahren 2018 und 2019 noch immer nicht erholt hat. Nicht einmal ein Dutzend Menschen sollen an den Folgen des Virus gestorben sein. ÄrztInnen aber berichten von völlig überlasteten Krankenhäusern. Mangels Coronatests werde auf vielen Totenscheinen eine «atypische Lungenentzündung» als Todesursache eingetragen.

Einen Hoffnungsschimmer gibt es in Kuba. Seit Januar hat sich das Land auf die Pandemie vorbereitet, Verdachtsfälle und Infizierte werden in Quarantänezentren eingewiesen. Die Kapazitäten sind vorhanden, das Gesundheitssystem ist vorbereitet. Gesundheitspersonal wird mit Nasentropfen des in eigenen Biotechnologielaboren entwickelten Wirkstoffs Interferon Alpha-2b vorbeugend behandelt. Das Medikament soll das Immunsystem stärken und wird angeblich mit Erfolg angewandt. Auch bei der Behandlung von schweren Covid-19-Fällen wird es zusammen mit dem ebenfalls selbstentwickelten Medikament Itolizumab eingesetzt und habe die Sterblichkeit deutlich gesenkt.

Toni Keppeler