Sexarbeit in Zürich: Die perfekte Gelegenheit

Nr. 41 –

Nach zwei Coronafällen verhängt der Zürcher Regierungsrat strengere Schutzmassnahmen für das Sexgewerbe. Geht es hier noch um den Ansteckungsschutz oder doch um eine Grundsatzdiskussion?

Beste Voraussetzungen, um publikumswirksam gegen das Sexgewerbe vorgehen zu können: Polizeieinsatz bei der Langstrasse vom 1. September. FOTO: URS JAUDAS, TAMEDIA

Mistress Scarlett arbeitet unter einem anderen Künstlerinnennamen als klassische Domina in einem Studio im Grossraum Zürich. Die 35-Jährige kennt das Sexgewerbe gut, sie ist im Zürcher Milieu vernetzt. Es ist ein Milieu, auf das sich die Coronapandemie in den letzten Monaten einschneidend auswirkte. Und jetzt ist alles nochmals schwieriger geworden. Mistress Scarlett klagt: «Vorher sind die Gäste ferngeblieben, weil sie Angst vor einer Ansteckung hatten. Wegen der Massnahmen bleiben nun auch Stammgäste zu Hause.»

Am 24. September gab der Zürcher Regierungsrat trotz steigender Coronafallzahlen Lockerungen für Bars, Clubs und das Gastgewerbe bekannt – und schärfere Massnahmen für das kantonale Prostitutionsgewerbe. Nicht nur müssen SexarbeiterInnen künftig die Kontaktdaten und Telefonnummern von Freiern durch Vorweisen amtlicher Dokumente überprüfen, es drohen zudem vermehrte Polizeikontrollen in legalen und illegalen Betrieben, wie Regierungsrat Mario Fehr (SP) ankündigte.

Schleichendes Berufsverbot?

Besonders das verstärkte Contact Tracing bereite der Branche Schwierigkeiten, sagt Mistress Scarlett: «Natürlich muss ich auch im Restaurant meine Daten angeben. Aber ein Restaurant ist nicht dasselbe wie ein Dominastudio. Das Gewerbe ist auf Anonymität angewiesen.»

Contact Tracing und Kontrollen sind nicht alles: Das Zürcher Migrationsamt stellt vorerst bis Ende Jahr keine Kurzarbeitsbewilligungen an SexarbeiterInnen aus den EU- und Efta-Staaten mehr aus. Gemäss Sicherheitsdirektor Fehr sei diese Einschränkung der Personenfreizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt.

Bei der Zürcher Beratungsstelle für SexarbeiterInnen Isla Victoria stösst das Vorgehen des Regierungsrats auf Unverständnis. «Während einerseits allgemein gelockert wird, hält der Druck auf das Sexgewerbe unter dem Deckmantel von Corona weiter an», sagt Beatrice Bänninger, Geschäftsführerin der Zürcher Stadtmission, zu der Isla Victoria gehört.

Auch die Zürcher Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) zeigt sich vom Vorgehen des Regierungsrats irritiert: «Es ist nicht nachvollziehbar, warum Fehr vor der Beschlussfassung keinen Kontakt zu den Stellen aufgenommen hat, die sich an der Front mit dem Thema befassen», sagt SP-Gemeinderätin und FIZ-Vorstandsmitglied Natascha Wey.

Den angefragten Beratungsstellen sind kantonal bisher zwei Fälle von Ansteckungen mit dem Virus im Sexgewerbe bekannt. Die beiden betroffenen Frauen hatten sich in einem illegalen Betrieb im Zürcher Langstrassenquartier angesteckt. Der Fall, besonders das rigide Vorgehen der Polizei, sorgte schweizweit für Aufsehen. Und damit für beste Voraussetzungen, um gegen das Sexgewerbe vorzugehen. So jedenfalls sieht das Beatrice Bänninger von Isla Victoria: «Diese Fälle stehen in keinem Verhältnis zu den jetzt geltenden Massnahmen. Man wird den Eindruck nicht los, dass sie nur vorgeschoben werden, um schleichend ein Berufsverbot im Kanton umzusetzen. Das Resultat wäre dasselbe wie beim schwedischen Modell.»

Auch national wieder Thema

Das nordische oder schwedische Modell fordert ein faktisches Verbot von Prostitution mittels Freierbestrafung. Nicht der Verkauf von Sex ist strafbar, sondern der Kauf. Während einige Frauenorganisationen, allen voran die Frauenzentrale Zürich, das schwedische Modell befürworten, wehren sich gerade Beratungsstellen wie die FIZ und Isla Victoria in Zürich, Lysistrada in Solothurn oder Xenia in Bern dagegen. Die GegnerInnen argumentieren, dass ein Sexkaufverbot die Betroffenen nur weiter stigmatisiere und in die Illegalität treibe.

Tatsächlich stehen die neuen Zürcher Schutzmassnahmen im Zusammenhang mit einer Interpellation dreier Kantonsrätinnen, die allesamt schon früher für ein Sexkaufverbot beziehungsweise ein Prostitutionsverbot eingestanden sind: die Grüne Jeannette Büsser, Barbara Günthardt Fitze von der EVP und allen voran die Grünliberale Andrea Gisler.

Gisler, bis 2019 Präsidentin der Frauenzentrale und massgeblich an deren 2018 lancierter Kampagne zur Einführung des nordischen Modells in der Schweiz beteiligt, gilt als eine der prominentesten Schweizer Befürworterinnen des Sexkaufverbots. Unter dem Titel «Die Unermüdliche» wurden Gisler und ihr Engagement 2016 in Alice Schwarzers Frauenzeitschrift «Emma» porträtiert. Dem «Blick» sagte Gisler 2018: «Es kann nicht sein, dass wir so tun, als sei Prostitution etwas völlig Normales, und dabei auch noch schönfärberisch von Sexarbeit reden.»

Natascha Wey ist überzeugt: «Andrea Gisler will die Pandemiesituation ausnutzen, um das schwedische Modell durch die Hintertüre einzuführen.» FIZ-Mitarbeiterin Nina Lanzi ergänzt: «Es ist unsere reale Befürchtung, dass Teile dieser Regelungen für das Sexgewerbe schleichend ins ordentliche Recht überführt werden.» Auf die Frage, ob und wie lange die Massnahmen verlängert werden könnten, schreibt die Zürcher Staatskanzlei: «Sollte die künftige Beurteilung dazu führen, dass weitergehende Massnahmen für den Kanton opportun sind, würde der Regierungsrat entsprechend handeln.»

Auf die Frage, ob die Interpellation als Versuch zu verstehen ist, das schwedische Modell schleichend einzuführen, antwortet Andrea Gisler schriftlich: «Die Einschränkung des Sexkaufs über die Pandemie hinaus ist eine Frage des Bundesrechts. Wenn die Interpellation aber dazu beiträgt, dass auch in der Schweiz endlich eine breite öffentliche Debatte über Prostitution geführt wird, wäre viel gewonnen.» Tatsächlich reichte gerade vor wenigen Tagen EVP-Nationalrätin Marianne Streiff-Feller eine Motion mit dem Titel «Menschen sind keine Ware – Nordisches Modell für die Schweiz» ein.

In die Illegalität getrieben

Im aktuellen Zürcher Fall könnte sich besonders das faktische Arbeitsverbot für ausländische SexarbeiterInnen als problematisch erweisen. In der Beratung der Isla Victoria melden sich laut Bänninger deswegen vermehrt Frauen: «Wenn diese Frauen keinen anderen Aufenthaltsgrund haben, müssen sie wieder umkehren – oder sie bleiben und arbeiten illegal.» Mistress Scarlett bestätigt diesen Verdacht: «Ich kenne Frauen aus Ost- und Mitteleuropa, die jetzt schwarzarbeiten. Sie kommen hierher, weil sie das Geld brauchen; die Massnahmen ändern daran nichts.»

GLP-Frau Gisler sieht die Sache anders: «Wir begrüssen es, wenn Freier und Bordellbetreiber mit der neuen Verordnung des Regierungsrats stärker in die Verantwortung genommen werden. Dass Widerstand kommt, war absehbar. Zuhälter und Bordellbetreiber lassen sich ihr lukratives Geschäft nicht gern vermiesen.»

Mistress Scarlett widerspricht dieser Ansicht. Nicht die Bordellbetreiber seien von den Massnahmen am meisten betroffen, sondern die SexarbeiterInnen: «Viele ausländische Frauen erhalten in Bordellen ohnehin schon weniger Geld als Schweizerinnen, teilweise nicht einmal die Hälfte. Und jetzt werden sie die Preise noch einmal drücken müssen, um die Dienstleistungen illegal anbieten zu können», sagt sie.

SP-Gemeinderätin Natascha Wey fühlt sich durch diese Entwicklung in ihrer Position bestätigt: «Hier sieht man im Kleinen, was bei der Einführung des schwedischen Modells passieren würde. Die Frauen, die jetzt keine Aufenthaltsbewilligung und somit ein faktisches Arbeitsverbot haben, geraten in die Illegalität, werden ausbeutbarer und vulnerabler.»