Corona: Ein politisches Versagen

Nr. 42 –

Die Pandemie sei «unter Kontrolle», wiederholte Gesundheitsminister Alain Berset Anfang Woche – dabei weiss das ganze Land, dass das nicht stimmt. Die Fallzahlen explodieren, die Spitaleinlieferungen steigen, in vielen Kantonen ist das Contact Tracing bereits heillos überlastet. Und was unternahm der Bundesrat, der die Kompetenzen im Sommer den Kantonen übergeben hatte, letzte Woche dagegen? Er färbte die Schilder seiner Warnkampagne von blau auf orange um.

Natürlich sind nicht alle Probleme dem Bundesrat und den kantonalen Regierungen anzulasten. Es gibt kein Zauberkraut gegen dieses Virus, jede Massnahme ist zudem ein Eingriff in das Leben der Menschen und muss verhältnismässig sein. Und dennoch: Erstens hätten die Behörden nun sieben Monate Zeit gehabt, um ein funktionierendes Contact Tracing mit genügend Personal aufzubauen. Der Winter steht erst vor der Tür, und bereits müssen in einigen Kantonen positiv Getestete selber den Menschen hinterhertelefonieren, mit denen sie in den Tagen zuvor Kontakt hatten.

Diese Überlastung hätte zweitens mit einer Maskenpflicht etwa in Geschäften entschärft werden können, die viele Kantonsregierungen noch immer nicht einführen wollen. Was so schlimm sein soll, beim Einkaufen ein Stück Stoff vor dem Gesicht zu tragen, bleibt ihr Geheimnis. Der Berner Gesundheitsdirektor Pierre-Alain Schnegg (SVP) wartete trotz Mahnungen von EpidemiologInnen, bis die tägliche Fallzahl bei fast hundert lag, um eine Maskenpflicht in öffentlichen Innenräumen einzuführen. Und nun, da die Fallzahlen durch die Decke gehen, bettelt er beim Bund um Hilfe für sein überlastetes Contact Tracing. Wenn Kantonsregierungen derart versagen, versagt auch der Föderalismus.

Drittens hat der Bundesrat trotz dringlicher Warnungen von EpidemiologInnen aus der eigenen Taskforce die Auflagen für Clubs und vor allem für grosse Veranstaltungen nach dem Lockdown im Eiltempo wieder gelockert – auch dann noch, als die Fallzahlen bereits wieder stiegen. Natürlich stehen hier viele Arbeitsplätze auf dem Spiel. Doch statt weiter zu lockern, hätte der Bund die Möglichkeit, mehr Geld in die Hand zu nehmen, um die entsprechenden Branchen zu stützen und vor allem die Löhne zu garantieren.

Finanzieren könnte das die Schweiz problemlos: Der Bund rechnet dieses Jahr mit einem Defizit von zwanzig Milliarden Franken. Damit wird die international rekordtiefe Schuld der Schweiz von – laut Internationalem Währungsfonds (IWF) – 40,5 Prozent um nicht einmal 3 Prozentpunkte steigen. Peanuts. Das Steuerparadies Schweiz könnte auch endlich Konzerne und Vermögende angemessen besteuern – etwa durch eine Coronasteuer auf Gewinne, wie sie der Direktor der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich, Jan-Egbert Sturm, vorgeschlagen hat.

Dass der Bundesrat so stark gelockert hat, liegt vor allem am Lobbying der Wirtschaftsverbände und an den bürgerlichen Parteien, die mehr Schulden und vor allem höhere Steuern um jeden Preis verhindern wollen. Auch die Stabübergabe an die Kantone dient dazu, die Ausgaben tief zu halten. Denn deren Mittel sind begrenzt. Unter anderem erschwert es ihnen der kantonale Steuerwettbewerb, die Steuern zu erhöhen. Um höhere Schulden und mehr Umverteilung zu verhindern, nehmen Wirtschaftsverbände und Bürgerliche lieber etwas mehr Tote in Kauf.

Dieser «schwedische Weg» ist jedoch auch ökonomisch dumm. Wie die Taskforce des Bundes oder der IWF in Studien aufgezeigt haben, bringen staatliche Massnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie nicht nur wirtschaftliche Kosten mit sich – im Gegenteil: Sie sind die Voraussetzung, dass das wirtschaftliche Leben weitergeht. Die aktuelle Ausbreitung der Pandemie wird die ökonomische und damit auch soziale Krise weiter verschlimmern. Auch weil nun schärfere Massnahmen nötig sein werden.

Was sich seit dem Sommer hier abspielt, ist ein politisches Versagen. Am Erscheinungstag dieser WOZ hat Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga die Kantone zum Krisengipfel geladen. Bundesrat und Kantone müssen endlich handeln.