Vernetzte Bibliotheken: Wer sucht, der findet nichts mehr

Nr. 13 –

Eine neue digitale Plattform verbindet fast 500 wissenschaftliche Bibliotheken der Schweiz. Doch vier Monate nach dem Start sind Mängel noch immer nicht behoben. Die Verantwortlichen hingegen zeigen sich zufrieden.

Plötzlich diese Übersicht? Der Roboter in der Speicherbibliothek im luzernischen Büron findet jedes Buch – auf der Suchplattform Swisscovery sieht das anders aus. Foto: Luca Zanier

Was haben ein sechsjähriges Kind in Solothurn und ein Professor für Amerikanistik an der Universität Basel gemeinsam? Seit vier Monaten nutzen sie dasselbe Bibliotheksnetzwerk; über die neue Swiss Library Service Platform (SLSP) können sie beide bis zu hundert Medien auf einmal ausleihen.

Das Angebot ist gratis – doch in den Mahngebühren kann sich das rächen: Die Sechsjährige, die sich in der Zentralbibliothek Solothurn «Furzipups», «König Babar» und 98 weitere Medien ausleiht, kommt bei Verzug auf Mahngebühren, die jedes Taschengeld übersteigen. In einer Sache aber schafft das neue System Gleichheit zwischen ProfessorInnen und Kindern: Beide müssen damit rechnen, dass sie nicht finden, was sie suchen. Denn mit der neuen Onlinesuchoberfläche Swisscovery waren manche Bücher, vor allem E-Books und mehrbändige Reihen, während Monaten gar nicht auffindbar.

«Ich weiss, dass das Buch da steht, ein paar Meter von meinem Schreibtisch weg», sagt Philipp Schweighauser, Professor am Englischen Seminar der Universität Basel. «Aber es wird mir nicht angezeigt.» Manchmal findet er ein Buch gar nicht, in anderen Fällen dauert es bloss länger. Ausleihen kann er offiziell ohnehin keine Bücher, denn vier Monate nach der Umstellung funktioniert das Ausleihsystem in der Seminarbibliothek immer noch nicht. «Ich nehme mir die Bücher dann trotzdem, aber eigentlich darf ich nicht.» Schweighauser hat den Eindruck, dass die SLSP unfertig gestartet ist. Die NutzerInnen müssen das nun ausbaden und Probleme melden, bis sie behoben sind: «Die Banane reift bei den KundInnen.»

«Total bekloppt»

Der Reifeprozess dauert schon seit dem 7. Dezember 2020. An diesem Tag startete das neue Bibliothekssystem. Seither sind 475 wissenschaftliche Bibliotheken aus der ganzen Schweiz komplett miteinander verbunden, mit Katalog, Ausleihe, Kurierdienst et cetera – quasi eine einzige digitale Bibliothek. Beim Launch hiess es, das Projekt sei «weltweit einzigartig», NutzerInnen hätten Zugriff auf vierzig Millionen Bücher, Zeitschriften und «Non-Book-Materialien» und mehr als drei Milliarden Onlinetexte. Darunter auch jene Werke, die nur noch in der Speicherbibliothek in Büron vorhanden sind (vgl. «Wird das Buch zum Luxusgut?» ). Selbst wenn alles reibungslos funktioniert hätte, wäre es ein Gewaltakt für die MitarbeiterInnen gewesen: 800 000 NutzerInnen brauchten ein neues Login. Anfangs musste man dafür zwingend eine Mailadresse haben; nicht immer hat die Registrierung im ersten Anlauf funktioniert – ein Quell des Frusts im Pandemiewinter. (Mittlerweile können Menschen ohne Mail sich durch das Personal einer Bibliothek lokal einschreiben lassen.)

Philipp Schweighauser ist nicht der Einzige, der seine Bücher seither nicht mehr findet. Die WOZ hat mit einem Dutzend Universitätsangehörigen gesprochen. Manche weichen zum Suchen auf Bibliothekskataloge anderswo aus – etwa auf jene der Uni Tübingen – und tippen nur noch exakte Buchtitel in die Swisscovery-Suchmaske. Manchmal schwang in diesen Gesprächen Bibliotheksromantik mit: Wieso merzen Bibliotheken den menschlichen Austausch mit dem Personal mehr und mehr aus? Wieso gibt es kein Nebeneinander von Digital- und Zettelkatalogen? Doch die Probleme sind praktischer Natur. Um etwa alle E-Books zu finden, müsse man zur Sicherheit immer auch auf den Verlagswebsites nachschauen. Die Suche mit dem System sei langsam, umständlich und liefere Resultate mit einer solchen Streuung, dass Bibliotheksrecherche, in geisteswissenschaftlichen Fächern oft Teil der Forschung, kaum mehr möglich sei.

Updates sollen zwar Besserung gebracht haben, doch noch Ende März zeigen sich auch im Test der WOZ Probleme: Die Reihe «Russia’s Great War and Revolution Series» des Universitätsverlags Indiana wird nicht angezeigt. Sucht man bloss nach «Russia’s Great War and Revolution», findet man Resultate – aber erst nach zwei weiteren Klicks erfährt man, welche der sieben Bände sich hinter einem Eintrag verbergen. Eine Professorin spricht gegenüber der WOZ von einem «ganz schönen Standortnachteil gegenüber anderen Ländern», wenn man das nicht bald in den Griff bekomme. Zudem erfolgte die Umstellung mitten im Semester, wenn viele Studierende ihre Seminararbeiten planen – «total bekloppt für alle in der Lehre», sagt ein Dozent dazu. Im September habe er Erstsemestrigen noch beigebracht, wie sie mit dem Onlinetool Swissbib recherchieren können. Im Dezember war diese Fähigkeit bereits unnütz.

Beim Launch von SLSP-Swisscovery hiess es, das neue System würde Recherche und Ausleihe «einfacher und effizienter» gestalten. Doch für die Suche bedeutet es einen Abbau: Mit Swissbib, das zielgenaue wie auch offene Recherchen ermöglichte, konnte man zuvor die Bestände von 900 Bibliotheken einsehen. Bei der SLSP fehlen vor allem nichtwissenschaftliche Bibliotheken, aber auch die Universitätsbibliothek Lausanne und die Schweizerische Nationalbibliothek. Und während viele Bibliotheken früher ihre Daten mit dem internationalen Bibliothekskatalog World Cat teilten, ist die SLSP zurzeit nicht daran angeschlossen. Die Schweizer Bibliotheken sind jetzt zwar miteinander verbunden – aber von der Welt abgenabelt.

Dafür ist mindestens eine Bibliothek mit dabei, die das selbst gar nicht weiss: Die Klosterbibliothek Sursee schreibt online, ihre Bestände könnten «bequem eingesehen werden». Der Link stammt aber aus der Zeit vor SLSP-Swisscovery und führt ins Nirgendwo. Beim Pfarramt Sursee – der Kontakt steht in der Liste der SLSP AG – weiss man nichts von der Umstellung. Die Bestände lassen sich dennoch durchsuchen – von denen, die Swisscovery kennen.

Kein Ferrari, nur ein Trabi

Die WOZ konnte mit sieben Bibliotheksmitarbeitenden sprechen. Manche sehen die SLSP überwiegend positiv; andere sind entnervt, weil sie an der Theke den Ärger von NutzerInnen spüren, für den sie gar nichts können. «Sie haben einen Ferrari versprochen, bekommen haben wir einen Trabi», sagt eine Person, die bei einer grossen Unibibliothek arbeitet. Als Indiz, dass der Zusammenschluss strauchelt, verweist sie darauf, dass die grossen Unibibliotheken nun parallel eine Rechercheplattform für alte Handschriften aufbauen – weil sich Swisscovery dafür als wenig brauchbar erwiesen habe.

Für Irritation in den Bibliotheken sorgte auch, dass die SLSP AG – ein Unternehmen mit Sitz in Zürich – vier Monate lang auf Englisch kommunizierte. Bis Anfang März hätten Bibliotheken ihre Supportanfragen auf Englisch formulieren müssen. Anfragen in Landessprachen seien teils gar nicht beantwortet worden. Gemäss SLSP AG verhält es sich anders: «Wir haben manche Anfragen aus Ressourcenmangel nicht beantworten können – unabhängig von der Sprache.»

Die SLSP AG ist mit ihrer Arbeit und den beteiligten Bibliotheken mehr als zufrieden. «Ich staune wirklich, dass es so gut funktioniert», sagt Vizedirektor Jürgen Küssow, «wir haben den Mut gehabt, uns als Erste in diese für Bibliotheken neuen Bereiche vorzuwagen.» Das internationale Interesse sei riesig: Küssow spricht von Anfragen aus Finnland, Tschechien und Japan.

Die Idee einer schweizweiten Plattform kam 2014 auf. In einer öffentlichen Ausschreibung setzte sich dann die Software des Weltmarktführers Exlibris durch, für den SLSP-Vizedirektor Küssow selbst sechzehn Jahre tätig gewesen war. 2017 gründete sich die SLSP als nichtgewinnorientierte Aktiengesellschaft. Das Motto des Unternehmens: «Von den Bibliotheken für die Bibliotheken». Direkt mit den NutzerInnen hat die Firma nämlich wenig Berührungspunkte: «Unsere Kunden sind nicht die Bibliotheksnutzer, sondern die Bibliotheken», sagt Direktor Thomas Marty. «Das ist ein bewusster Entscheid der Träger.»

Sachzwänge an allen Fronten

Die SLSP-Aktionäre – dreizehn Hochschulen und zwei Bibliotheken – kommen für 10 von 15 Millionen Franken Kosten auf, der Rest stammt aus einem Bundesfonds, den die Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen koordiniert. Doch die Ausschreibung für diese Fördergelder kam ein halbes Jahr später, als es im Fahrplan von SLSP vorgesehen war. Dies ist laut der Direktion der Grund, weshalb sich der geplante Launch vom Sommer 2020 in den stressigen Dezember verschoben hat. Es war allerhöchste Eisenbahn: Weil sich der Bibliotheksverbund der Romandie am 31. Dezember auflöste, wäre ansonsten Chaos ausgebrochen. Deshalb hätten die Bibliotheken «mit Annahmen» arbeiten müssen; eine breite Studie zur Bedienbarkeit mit NutzerInnen war nicht möglich.

Es ist nicht der einzige Sachzwang, den Marty und Küssow schildern: Aus Datenschutzgründen sei es zwingend gewesen, dass alle NutzerInnen sich neu registrieren müssen. Auch für den Entscheid, dass der neue Kurierdienst nicht für alle gratis ist, könne die SLSP nichts. Vor dem Zusammenschluss kostete es innerhalb der Romandie drei Franken, ein Buch via Kurier von der einen in die andere Bibliothek liefern zu lassen, anderswo war es teurer – neu kostet es schweizweit sechs Franken. Für die lächerliche Strecke zwischen Sozialarchiv und Zentralbibliothek Zürich macht das 50 Rappen pro 100 Meter. Das Kuriersystem laufe aber reibungslos, sagen die, die es verwenden.

Den Suchfrust unter WissenschaftlerInnen hätte man ihnen für nur 400 000 Franken jährlich ersparen können: Marty und Küssow hätten den Swissbib-Katalog gerne in Swisscovery integriert. Die teilhabenden Bibliotheken sollen sich dagegen entschieden haben. «Wir sind am Feintuning der Suchoberfläche», sagt Küssow. Probleme gebe es aber bloss in Einzelfällen. «Gegen eine Verallgemeinerung würde ich mich verwehren.» Seit vier Monaten sei man nun daran, «Kinderkrankheiten» zu identifizieren. Und der Ausleihautomat am Englischen Seminar der Universität Basel? Der funktioniere deshalb nicht, weil «eine Schnittstelle nicht zeitkonform ist», so Küssow. Da müsse der Lieferant der Bibliothek ein Update machen.

Zufrieden vor dem Grounding

Die Verantwortlichen der SLSP waren bereits im Herbst 2019 zufrieden. Schon am «SLSP Symposium» begeisterte Küssow sich und 300 BibliotheksmitarbeiterInnen im Publikum ob der internationalen Aufmerksamkeit, die den Schweizer Bibliotheken mit dem Projekt zuteilwerde, wie man auf der Aufnahme sieht. Den Auftritt des damaligen SLSP-CEOs Peter Wildhaber empfanden viele, die da waren, als bizarr. Wildhaber verglich die Phase vor dem Launch von SLSP-Swisscovery mit dem Grounding der Swissair.

«Sie fragen sich vielleicht, wie ist das mit dem Support organisiert?», setzte er an. Diese Unsicherheit erinnere ihn an seinen Anfang bei der Swissair, im August 2001. Sein erster Entscheid sei dann die Entlassung von einem Drittel der Untergebenen gewesen. «Das Resultat kennen Sie.» Nach Wildhabers Mimik zu schliessen, ist die Geschichte der Fluggesellschaft Swiss eine Erfolgsstory. Nun werde es auch bei der SLSP «bis zur Destination Excellence vielleicht ein paar Jahre dauern». Einige Wochen später trat Wildhaber als CEO ab. Zu den Umständen äussert sich die SLSP AG heute nicht.

Als BibliotheksnutzerIn wartet man gespannt, ob es tatsächlich Jahre dauern wird, bis die SLSP die Mängel in den Griff bekommt.