Neoliberalismus: War es das jetzt? Oder eben nicht?

Nr. 21 –

Die neoliberale Hegemonie wurde oft beerdigt, bloss um wiederzukehren – auch 2008 nach der Finanzkrise. Wie wird es nach der Pandemie sein? Die WOZ sprach mit dem Historiker Quinn Slobodian und dem Ökonomen Michael Roberts.

Die US-Regierung hat all jene überrascht, die in der Wahl Joe Bidens nur die neoliberale Kontinuität erkennen konnten: Gigantische sechs Billionen Dollar schwer sind die drei Rettungspakete, die Biden zu grossen Teilen für soziale und ökologische Projekte vorsieht. US-Finanzministerin Janet Yellen fordert zugleich im Chor mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der lange als Garnison des Neoliberalismus galt, eine globale Mindeststeuer für Konzerne. Auch in der EU wurden alte Dogmen angekratzt. Selbst Deutschland hat gemeinsamen Euro-Bonds zugestimmt, mit denen die ärmeren Staaten des europäischen Südens ihre Ausgaben leichter finanzieren können. Zugleich wurden die strengen Schuldenregeln der EU-Länder bis 2023 sistiert und zur Diskussion gestellt.

Es scheint, als hätten sich mit dem Schock der Pandemie, der die ProphetInnen des reinen Marktes etwas kleinlauter werden liess, die wirtschaftspolitischen Koordinaten deutlich verschoben. Konservative ÖkonomInnen warnen eindringlich vor einem Dammbruch, der zu monströsen Staatsschulden und einer Inflationsspirale führen müsse. In der Linken herrscht derweil Aufbruchstimmung. Philipp Löpfe, Wirtschaftsjournalist beim Onlinemedium «Watson», titelte Anfang April: «Joe Biden beerdigt den Neoliberalismus».

Suppe für die Verarmten

Deutlich vorsichtiger zeigt sich Quinn Slobodian, Historiker am US-amerikanischen Wellesley College und Mitherausgeber des Buches «Nine Lives of Neoliberalism». Im Gespräch erklärt er: «Der Neoliberalismus wurde schon oft zu Grabe getragen. Besonders feierlich fiel sein Begräbnis nach der Finanzkrise von 2008 aus. Damals glaubte man, dass die ausser Kontrolle geratene Finanzwelt nun reguliert würde und eine Art Keynesianismus zurückkehre.» Das jedoch geschah nicht, stattdessen schossen in den USA Suppenküchen und Zeltstädte aus dem Boden, während die Banken mit monströsen Milliardenbeträgen gerettet wurden. In Europa wurde mit einigen Jahren Verzögerung die Staatsschuldenkrise ausgerufen, und notleidenden Ländern wurden strenge Sparkuren verordnet: Politik wie aus dem Lehrbuch des Neoliberalismus, flankiert von der Geldschwemme der Zentralbanken.

Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hat in seinem Buch «Crashed» akribisch nachgezeichnet, wie diese politische Verwaltung der Krise nach 2008 nicht nur für die krasse Verarmung im europäischen Süden verantwortlich war, sondern auch den Austritt Grossbritanniens aus der EU und die Wahl Donald Trumps befeuerte. Dieser Meinung ist auch Slobodian: «2016, bei der Zustimmung zum Brexit und der Wahl von Trump, sah man wieder das Ende des Neoliberalismus gekommen. Aber dem profitabelsten Bereich der kapitalistischen Wirtschaft in den USA und Grossbritannien, dem Finanzsektor, wurden die Flügel überhaupt nicht gestutzt. Die einzige wirkliche Veränderung des neoliberalen Status quo war in Sachen Freihandel zu verzeichnen: der Bruch mit China, der in einen Handelskrieg mündete.»

Diese Politik setze die US-Regierung nun unter neuer Rhetorik fort, erklärt der Historiker. Sie weiche in ihrer Vision des nationalen Wettbewerbs und der Eroberung von Märkten nicht sehr vom alten Paradigma ab, wenngleich dieses nun im Prisma der nationalen Sicherheit erscheint. Dennoch drängte der politische Bruch eine zentrale Annahme der neoliberalen Freihandelsdoktrin zurück: die Vorstellung einer naturgegebenen Globalisierung, in der die Politik auf die Entwicklungen der Wirtschaft lediglich reagieren kann.

Biden und der Paradigmenwechsel

Dieses Trugbild einer ökonomischen Gewalt, der die Welt hilflos ausgeliefert ist, ist auch andernorts verblasst: Nach dem Finanzcrash von 2008 intervenierten die grossen Zentralbanken mit gigantischen Geldmengen. Neoliberale ÖkonomInnen warnten gebetsmühlenartig vor Inflation. Nichts dergleichen geschah. «Daraus resultiert der eigentliche Paradigmenwechsel, der sich in den letzten zwölf Jahren vollzogen hat», sagt Slobodian. «In Europa und den USA und zunehmend auch in anderen Ländern scheint es, als könne man immer mehr Geld ausgeben, ohne dass es zu einem ökonomischen Erdbeben kommt.» Dies schien sich in der Pandemie nochmals zu bestätigen, als die Zentralbanken mit beispiellosen Summen intervenierten.

Das wiederum, so Slobodian, habe die neoliberalen Erklärungsmodelle vollends durcheinandergebracht: «Auf die jetzige Situation haben sie einfach keine Antworten. Ihr Mantra lautet schlicht: Die Inflation kommt! Mit diesem Argument wollen sie unliebsame wirtschaftspolitische Massnahmen verhindern.» Nach über einem Jahrzehnt der ultralockeren Geldpolitik überzeugt das aber immer weniger. Wovor die Regierung Obama noch zurückschreckte, traut sich nun der umsichtige Politiker Biden. Er verwirft nichts weniger als Ronald Reagans vierzig Jahre währendes Dogma, wonach der Staat das Problem sei. Slobodian unterstreicht: «Die Regierung sagt nun, dass sie die Ökonomie steuern müsse.»

Das theoretische Vakuum, das die alte Orthodoxie hinterlassen hat, versuchen progressive ÖkonomInnen nun mit unterschiedlichen Ansätzen zu füllen. «Was sich wirklich verändert hat, sind die Diskussionen auf der höchsten Ebene der Politik», sagt Slobodian. Und warnt zugleich davor, schon wieder ein verfrühtes Begräbnis des Neoliberalismus zu veranstalten: «Als politisches ökonomisches Projekt stirbt er nicht, sondern steht in ständigem Wettbewerb mit anderen wirtschaftspolitischen Ansätzen. Die Schlacht hat er zwar verloren, es ist aber noch lange nicht ausgemacht, ob er auch den Krieg verliert.» Einen grossen Gegenangriff der neoliberalen Garde hat es bislang nicht gegeben, ihre theoretischen Waffen sind stumpf geworden. Das muss aber nicht so bleiben.

Die Frage bleibt, was Joe Biden – von der «New York Times» als «lebenslanger Zentrist» betitelt – neben den theoretischen und politischen Siegen der Linken zur Kursänderung veranlasst hat. Dazu muss man sich vergegenwärtigen, welche Verheerungen die Pandemie in den USA angerichtet hat: Allein vom Ausbruch im März bis Ende Mai 2020 haben über vierzig Millionen Menschen Erstanträge auf Arbeitslosenhilfe gestellt. Die Bilder endloser Schlangen vor den Gassenküchen gingen um die Welt. Die USA drohten zwischenzeitlich im Chaos zu versinken.

Biden inszenierte sich als grosser Versöhner der Nation. Um seine Politik umsetzen zu können, ist seine Regierung bei den im November 2022 anstehenden Senatswahlen auf Mehrheiten angewiesen. «Traditionellerweise verliert die Regierungspartei diese, wenn die Menschen nicht bereits Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen spüren. Dies dürfte sie anspornen», erklärt Slobodian. Und tatsächlich, bereits stossen die Massnahmen auf Anklang: In Umfragen sprachen sich überwältigende Mehrheiten der US-BürgerInnen für die Rettungspakete aus.

Die politischen Interventionen in den USA dürften, falls sie erfolgreich sind, auch Druck auf die EU ausüben. Und das scheinen sie vorderhand zu tun: Laut Zahlen des IWF ist die Wirtschaft auf dem alten Kontinent stärker eingebrochen und wird 2021 weniger wachsen, sodass die EU im Gegensatz zu den USA unter dem Niveau von 2019 bleiben wird. Zugleich wurden die sozialen Verwerfungen in vielen Ländern Europas durch Arbeitslosensysteme und Kurzarbeitsregimes abgemildert. Dennoch hat selbst das knausrige Deutschland eingelenkt. Das Land sei darauf bedacht, die EU von der Slowakei bis nach Portugal als integrierte Lieferkette für die eigenen hochentwickelten Exportprodukte zu erhalten, sagt Slobodian. Das ist nicht kostenlos zu haben.

Nicht mehr als ein «Zuckerrausch»?

Wie nachhaltig der Wandel aber sein wird, wie sehr er das Leben der ArbeiterInnen verändert, entscheidet sich an seinem Erfolg. Der Neoliberalismus wurde politisch wirkungsmächtig, weil er eine brutale Antwort auf das schwache Wirtschaftswachstum bei hoher Inflation in den siebziger Jahren zur Hand hatte. Dass die jüngste Wende die aktuellen ökonomischen Probleme lösen kann, bezweifelt Michael Roberts. Er hat über vierzig Jahre in London als Ökonom in der Finanzbranche gearbeitet und nach dem Finanzcrash von 2008 mehrere Bücher zur Krise publiziert.

Im Gespräch erklärt Roberts: «Wenn der IWF nun ein starkes Wachstum prognostiziert, ist das einem kurzfristigen Stimulus geschuldet. Wenn ein Teil der Wirtschaft geschlossen wird und dann wieder öffnen kann, gibt es natürlich eine starke Expansion. Aber das wird vermutlich nicht nachhaltig sein.» Wir würden in den nächsten Monaten einen «Zuckerrausch» der Wirtschaft erleben, warnt er.

In diesem Rausch könne die Inflation erst einmal ansteigen, langfristig sei sie aber kein Problem. Stattdessen verweist Roberts auf die schwachen Wachstumszahlen vor der Pandemie sowie auf den hohen Schuldenstand der Firmen und die enorme Anzahl von «Zombiefirmen» – unprofitablen Unternehmen, die auf ständige Neuverschuldung angewiesen sind. Diese Konstellation verhindere ein nachhaltiges gutes Wirtschaftswachstum, sagt der Ökonom, die Daten deuteten längerfristig auf eine schleppende Entwicklung.

Die Lösung dieses Problems wäre nach Roberts brutal: «Wenn ein Teil des produktivitätshemmenden Kapitals zerstört würde, könnten wir einen Anstieg der Rentabilität erleben und damit einen Aufschwung. Dies würde aber nach zwei Jahren Wirtschaftsflaute einen neuen harten Einbruch bedeuten.» Davor schreckten die Regierungen zurück, die politischen Konsequenzen wären nicht abzusehen. So seien die EntscheidungsträgerInnen gezwungen, die Geldschleusen offenzuhalten, um die fortgeschrittenen Volkswirtschaften wenigstens auf tiefem Niveau am Laufen zu halten.

Das wiederum hält das Gewicht des internationalen Wettbewerbs hoch. «Die tiefen Wachstumsraten werden anhalten, die Arbeit wird für einen grossen Teil der Lohnabhängigen schlecht bezahlt und prekär bleiben», prognostiziert Roberts. Quinn Slobodian zeichnet derweil eine mögliche Zukunft der USA unter Biden: «Die BürgerInnen erhalten ein universelles Grundeinkommen, das die schrecklichsten sozialen Verheerungen abmildert, während die Regierung ein Programm der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit verfolgt, das auf flexiblen Arbeitsmärkten und niedrigen Löhnen beruht.»

Quinn Slobodian u. a. (Hrsg.): «Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus». Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp. Berlin 2019. 522 Seiten. 35 Franken.

Quinn Slobodian u. a. (Hrsg.): «Nine Lives of Neoliberalism». Verso. London 2020. 368 Seiten. 19 Franken. Gratisdownload: www.econstor.eu/handle/10419/215796/

Michael Roberts: «The Long Depression: Marxism and the Global Crisis of Capitalism». Haymarket Books. Chicago 2016. 360 Seiten. 12 Franken.

Michael Roberts u. a. (Hrsg.): «World in Crisis. A Global Analysis of Marx’s Law of Profitability». Haymarket Books. Chicago 2018. 350 Seiten. 14 Franken. Gratisdownload: digamoo.free.fr/robcarchedi.pdf (PDF-Datei)

Adam Tooze: «Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben». Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, Karsten Petersen und Thorsten Schmidt. Siedler Verlag. München 2018. 800 Seiten. 40 Franken.