Griechenland: Die wahren Brandstifter sitzen nicht im Gerichtssaal

Nr. 24 –

Neun Monate nach dem Feuer im Flüchtlingslager Moria werden sechs junge Afghanen zu langen Haftstrafen verurteilt. Und das, obwohl kein anwesender Zeuge diese in der vermeintlichen Tatnacht gesehen hat.

«Der einzige Zeuge, der die Angeklagten identifiziert hatte, stellte sich dem Gericht nicht. Seine schriftliche Zeugenaussage war voller Ungereimtheiten», sagt Verteidigerin Natasha Dailiani. Am Samstag verurteilte ein Gericht auf der griechischen Insel Chios vier Geflüchtete zu jeweils zehn Jahren Haft, obwohl drei Angeklagte minderjährig sind. Zwei der insgesamt sechs Angeklagten waren bereits im März vor dem Jugendgericht in Lesbos zu fünf Jahren Haft verurteilt worden.

Neun Monate ist das Feuer im Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos im Ägäischen Meer nun her. ReporterInnen reisten an, um zu verstehen, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte. Auch Tage nach der ersten Feuernacht standen einige Baumstämme noch immer voller Glut. Wer hatte Moria angezündet? Für viele humanitäre HelferInnen vor Ort war dies nicht mehr die entscheidende Frage. Vor dem Feuer verbrachten die Menschen im Lager über 170 Tage wegen Corona in der Isolation. Das brachte die 13 000 Asylsuchenden endgültig an den Rand der Existenzfähigkeit. Für viele humanitäre AkteurInnen vor Ort war klar, dass das Feuer zum Symbol des jahrelangen politischen Versagens der griechischen und europäischen Behörden geworden war, wenn es darum geht, etwas an den menschenunwürdigen Bedingungen im Lager zu ändern.

Die griechischen Behörden jedoch sahen die Sache anders: Schon eine Woche nach dem Feuer sagte der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis gegenüber CNN, dass sechs junge Afghanen das Feuer gelegt hätten und nun festgenommen worden seien. Ein eindeutiger Verstoss gegen die Unschuldsvermutung.

«Die Mindeststandards für ein faires Gerichtsverfahren wurden nicht eingehalten», sagt Dailiani. Die Anwältin versucht noch immer zu verstehen, was sie im Gerichtssaal auf Chios erlebt hat. Sie geht ihre Verteidigungsrede durch. Prüft ihre Aussagen. Sie bleibt bei ihrer Einschätzung: Die Entscheidung des Gerichts schien von Anfang an gefällt: Es erklärte die vier angeklagten Afghanen für schuldig wegen Brandstiftung, Gefährdung von Menschenleben und der Zerstörung von Eigentum. Und das, obwohl die Schuld der vier Angeklagten nicht bewiesen werden konnte.

Der Kronzeuge taucht unter

Gleich zu Beginn wurde der Antrag der VerteidigerInnen abgelehnt, den Prozess vor einem Jugendgericht zu verhandeln. Hinzu komme, dass die Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt worden sei. Nicht einE JournalistIn war im Gerichtssaal anwesend. «Wenn du als demokratisches Gericht noch ernst genommen werden willst, musst du Gerichtsverfahren der Öffentlichkeit zugänglich machen», sagt Dailiani. Die Angeklagten seien mit Masken in der Mitte des Raums gesessen. Das Tribunal tagte hinter Plexiglas. «Hinter uns waren bestimmt noch fünf bis sechs Meter Platz, um einen Beobachter zuzulassen, doch unserem Ersuchen wurde nicht entsprochen.»

Auch die niederländische Fotojournalistin Tessa Kraan kam mit zwei weiteren Kolleginnen der griechischen und internationalen Presse frühmorgens zum Gerichtssaal. Ihre Anfrage, dem Verfahren beizuwohnen, wurde abgelehnt, da im Zuge der Pandemiebeschränkungen offiziell nur 15 Menschen erlaubt waren, und das, obwohl die Touristensaison in Griechenland seit einem Monat läuft und in zwei Wochen die ersten Hochzeiten mit über 300 BesucherInnen zugelassen werden.

«Es ist hochproblematisch, dass ein solcher Gerichtsfall unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet», sagt Kraan, «auch unabhängige Beobachter und Beobachterinnen, etwa vom Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, die extra angereist und registriert waren, standen vor verschlossenen Türen.»

Währenddessen konnte keiner der geladenen fünfzehn Belastungszeugen im Gerichtssaal bestätigen, die Angeklagten in der angeblichen Tatnacht gesehen zu haben. Das Gericht stützte sich allein auf die schriftliche Aussage eines Zeugen, der nicht mehr auffindbar war und deshalb am letzten Freitag auch nicht vor Gericht erschien. Der Zeuge lebte zum Zeitpunkt des Feuers in Moria und erhielt kurz danach einen positiven Asylbescheid, womit er die Insel verlassen konnte.

Es sei klar gewesen, so die Verteidigerin Dailiani, dass Moria nicht nur in einer Nacht, sondern innerhalb von vier Tagen durch erneut entfachte Feuerstellen abgebrannt sei. Es sei schlicht unmöglich zu sagen, dass fünf zur Tatzeit minderjährige Bewohner und ein junger Mann alleine für das Feuer verantwortlich gemacht werden könnten. Das Chaos in der ersten Feuernacht habe auch ein Zeuge vor Gericht beschrieben. Hunderte von demonstrierenden und wütenden Menschen seien in der Nacht vom 8. auf den 9. September die Olivenhügel hinuntergerannt. Erst brannten Zelte in den Olivenbaumfeldern ausserhalb des Lagers, dann standen auch die Container im ehemaligen Militärlager selbst in Flammen.

Immer stärkere Entrechtung

Noch in dieser Woche sollen die vier Geflüchteten, die damals zu den mehr als 13 000 Asylsuchenden in Moria gehörten, in die Haftanstalt Ekkna für jugendliche Straftäter ausserhalb von Athen zurückgebracht werden, wo sie schon bis zum Prozess festgehalten wurden. Dort werden sie bis zur Berufungsverhandlung bleiben müssen.

«Wir werden alle Rechtsmittel ausschöpfen, um sicherzustellen, dass die Angeklagten einen fairen Prozess bekommen und ein klares Urteil, das ihre Unschuld beweist», erklärte Effie Doussi, eine weitere Verteidigerin, nach dem Gerichtsentscheid. Immer wieder betont die Anwältin, die seit 2018 auf Lesbos Geflüchtete in Rechtsfällen vertritt, dass sie weiterhin an die Rechtsstaatlichkeit Griechenlands glaubt.

Die letzten Jahre auf den Ägäischen Inseln zeichnen jedoch ein anderes Bild. Die Grenzen der Entrechtung von Geflüchteten werden immer weiter ausgeweitet: durch Inhaftierungen ohne rechtlichen Beistand, willkürliche Polizeigewalt oder illegale Pushbacks sowie durch fehlende zertifizierte ÜbersetzerInnen für Asylanhörungen. Laufend wird in den Gerichtssälen geltendes EU-Recht gebrochen, zum Beispiel das Recht auf einen Asylantrag oder ein faires Gerichtsverfahren.

Auch auf dem griechischen Festland können Asylsuchende ohne Gerichtsbeschluss für kleinste Vergehen verhaftet und in Abschiebegefängnissen festgehalten werden. Bis heute gibt es keine rechtlichen Konsequenzen für die Rechtsbrüche der griechischen Behörden, die immer wieder vom eigentlichen Sachverhalt ablenken, wie auch beim Brand in Moria. «Seit mehr als fünf Jahren erzeugt die Migrationspolitik der EU an ihren Aussengrenzen eine beispiellose Krise und enormes menschliches Leid», sagt Reem Mussa, humanitäre Expertin von Ärzte ohne Grenzen. In ihrem neusten Bericht kritisiert die Hilfsorganisation, dass es noch immer Ziel des EU-Modells sei, «Migranten davon abzuhalten, in Europa Zuflucht zu suchen». Und das zu jedem Preis.

«Ich sage es jetzt einfach mal, wie es ist», sagt Natasha Dailiani. «Ein falsches Gericht hat die falschen Leute inhaftiert.»