Autobahnwahn: Im Denken der sechziger Jahre verhaftet

Nr. 6 –

Noch immer will der Bundesrat mit fadenscheinigen Argumenten neue Autobahnen bauen und die Kapazität des Nationalstrassennetzes erhöhen. Der Widerstand dagegen erhält mit dem Engagement junger Klimaaktivist:innen zusätzliche Energie.

Das Nationalstrassennetz (grosse Ansicht der Infografik) Infografik: Marcel Bamert, WOZ

Seit vierzig Jahren kämpft Walo Abegglen gegen «überrissenen Strassenbau» im Kanton Thurgau. Früher habe sich auch ein Grossteil der Landwirt:innen gegen seit langem geplante Schnellstrassen engagiert, die den ganzen Kanton zerschneiden, sagt der ehemalige SP-Lokalpolitiker. Das sei heute anders. Der Bauernverband bilde mit Handels- und Industriekammer sowie SVP und FDP eine Machtkoalition, die sich erfolgreich gegenseitig Mehrheiten verschaffe.

Als Gymnasiallehrer wurde der Historiker Abegglen vor wenigen Jahren pensioniert – und mit ihm sind auch die restlichen Thurgauer Strassengegner:innen ins Alter gekommen. Man habe bisher Mühe, jüngere Gruppen in den Widerstand einzubinden. Doch Hilfe naht.

Stählerner Grössenwahn

Junge Klimaaktivist:innen haben sich zum Ziel gesetzt, den Bau von neuen Autobahnen und Schnellstrassen zu verhindern. Als der Klimastreik im Vorjahr einen Klimaaktionsplan veröffentlichte, verlangte er darin auch eine massive Reduktion des motorisierten Verkehrs. In der Folge wurde entschieden, aktiv in den Kampf gegen den Nationalstrassenausbau einzugreifen. In den letzten Monaten habe das Engagement richtig Fahrt aufgenommen, sagen Beobachter:innen. Im Autobahnbau sehen die jungen Klimastreikenden ein Sinnbild dafür, was falsch läuft in der Schweizer Klimapolitik, ja in der Schweizer Politik, die sich nicht von Wachstumszwang und Partikularinteressen lösen kann. Tatsächlich plant der Bund Aus- und Neubauprojekte, als ob es keinen Klimawandel gäbe.

Bei Autobahnprojekten haben Schweizer Behörden schon immer gross gedacht. 1960 wurde das Schweizer Nationalstrassennetz integral geplant – und in den folgenden sechzig Jahren praktisch komplett gebaut. 2254 Nationalstrassenkilometer wurden bisher erstellt, davon sind 1544 Autobahnkilometer. So einige davon führen mitten durch Siedlungsgebiet oder durch wertvolle Naturlandschaften.

Nicht realisiert ist das sogenannte Zürcher Ypsilon. Zu gross war der Widerstand gegen diesen lebensfeindlichen Grössenwahn aus Stahl, Beton und Asphalt, der eine Autobahnkreuzung direkt beim Zürcher Hauptbahnhof vorsah – Tunnel unter der Bahnhofshalle und Viadukte über Sihl und Limmat inklusive. Dieses Teilprojekt soll nun nach dem Willen des Bundesrats offiziell abgeschrieben werden. Ein Novum in der Schweizer Autobahnplanung. Es sei «nicht mehr zeitgemäss».

Diese Erkenntnis hindert die Regierung aber nicht daran, weiterhin Nationalstrassen zu planen, die ihrerseits komplett aus der Zeit gefallen sind. Ende Januar verabschiedete der Bundesrat fünf neue Projekte, über die das Parlament nach der Vernehmlassung entscheiden wird. Eines der Projekte sieht einen dritten Tunnel für die St. Galler Stadtautobahn vor und einen zusätzlichen Autostrassentunnel, der den Verkehr zum alten Güterbahnhof mitten ins Stadtzentrum von St. Gallen und weiter ins Appenzellerland führen soll.

Geplant sind auch ein Ausbau des Anschlusses Bern – Wankdorf und ein Ausbau auf acht Spuren der Autobahn nördlich von Bern. Auch der direkt daran anschliessende Autobahnabschnitt zwischen Schönbühl und Kirchberg soll zwei zusätzliche Spuren erhalten. In Basel und Schaffhausen sind derweil längere Autobahntunnels geplant. Insgesamt sind aktuell gemäss dem Bundesamt für Strassen 59 neue grosse Ausbauprojekte in Prüfung, Planung oder im Bau. Zusätzlich sollen an 25 Stellen Pannenstreifen als zusätzliche Fahrbahnen umgenutzt werden. An Geld dafür mangelt es nicht (vgl. «Alternativen werden nicht geprüft» ).

Zahlreiche lokale Komitees organisieren den Widerstand gegen die Autobahnen – ausserparlamentarisch. Denn während kommunal normalerweise schon über kleinere Infrastrukturprojekte abgestimmt werden kann, ist die lokale Mitsprache bei Nationalstrassenprojekten nur äusserst bedingt vorgesehen. Dass der Autobahnausbau nach Bundesrecht abläuft, mache die Materie auch juristisch komplex, sagt Markus Heinzer von der Berner Widerstandsbewegung Spurwechsel. Die Komplexität der Vorlagen sei für die lokalen Organisationen eine Herausforderung.

Als Reaktion darauf hat Spurwechsel ein nationales Netzwerk geschaffen, in dem sich die lokalen Gruppierungen untereinander austauschen können. So können die Komitees in St. Gallen, wo sich der Widerstand gerade neu formiert, von den erfolgreichen Kämpfen in Biel (vgl. «Rückkehr des Monsters» ) oder Luzern lernen. Heinzer war auch am vergangenen Samstag dabei, als der Klimastreik zum ersten Treffen der sich im Aufbau befindenden Widerstandsgruppe «Verkehrswende Jetzt» eingeladen hat. Der Klimastreik will den Widerstand gegen die Autobahnen in aktivistischer Form laut aufs nationale Parkett tragen. Als Erstes ist im Sommer ein Aktionstag mit schweizweiten Protesten geplant.

Anna Miotto ist eine dieser Klimaaktivist:innen. «Absurd und dumm» sei es, mitten in einem durch Verbrennungsgase ausgelösten Klimanotstand Autobahnen zu bauen, sagt die Zwanzigjährige. «Absurd» findet sie auch die Idee, mit einem Autobahnanschluss zusätzliche Fahrzeuge in die jetzt schon überlastete St. Galler Innenstadt zu leiten. Zudem bedrohe das Projekt Kulturbetriebe im alten Güterbahnhof, sagt Miotto, die auch Präsidentin der kantonalen Juso ist.

Autobahnausbau führt zu Mehrverkehr

In St. Gallen stehen Kanton und Stadt hinter dem Ausbau. Das ist keine Ausnahme: Während sich kleinere Durchgangsgemeinden häufig gegen die Projekte wehren, sehen Stadtregierungen diese häufig positiv. Sie erhoffen sich durch die Autobahnen eine Entlastung des Siedlungsgebiets, wie es ihnen das Bundesamt für Strassen verspricht: Der Verkehr soll über die Schnellstrassen statt durch die Quartiere geführt werden.

Alexander Erath forscht als Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz zu Verkehr und Mobilität. In gewissen Fällen könnten Autobahnen Städte durchaus von Lärm und Verkehr entlasten, sagt er. «Gleichwohl zeigt die Forschung, dass Autobahnausbauten letztlich zu mehr Verkehr führen.» Wenn «Engpässe beseitigt» werden, wie es der Bund zur Maxime erhoben hat, kann das gemäss Erath zwar kurzfristig für Verkehrsentlastung sorgen. Das mache die Nutzung des Autos im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln aber auch attraktiver. Durch erzielte Fahrzeitverkürzungen würden die Autofahrer:innen zudem weiter entfernte Ziele ansteuern. Beides führt letztlich zu Mehrverkehr auf der Strasse.

«Dass die Behörden die Erkenntnisse der Forschung negieren, ist ein Wahnwitz», sagt Cristina Bitschnau-Kappeler vom Verkehrs-Club der Schweiz (VCS) St. Gallen. Dieser ist Teil der lokalen Widerstandsbewegung, die derzeit wächst. Neben den linken Parteien ist unter anderem auch die lokale GLP gegen das Projekt. Bei den Vernetzungstreffen sind aber auch der Klimastreik und weitere linke Organisationen mit dabei. Die Klimastreikenden setzen auf einen aktivistischen Protest: «Wenn wir nichts Radikales machen, schaffen wir die notwendigen Veränderungen nie», sagt die junge Aktivistin Léonie Schubiger. Und solche brauche es, schliesslich sei der Verkehr in der Schweiz für über ein Drittel des im Inland ausgestossenen CO2 verantwortlich. «Doch selbst der SP muss man verdammt fest in den Arsch treten, damit sie für faire und klimagerechte Lösungen einsteht», sagt die kantonale Juso-Präsidentin Miotto über ihre Mutterpartei.

Aktivismus – und ein Referendum?

Die St. Galler Klimastreikenden haben bereits bei ihren letzten Aktionen gegen den Autobahnneubau protestiert – derzeit arbeitet die lokale Gruppe an neuen Aktionen. Sie lassen sich auch nicht davon abhalten, dass die Stimmberechtigten der Stadt 2016 eine Initiative gegen den Autobahnanschluss abgelehnt haben. Sie wollen in der Bevölkerung breiten Widerstand organisieren und so Druck auf die Politik machen.

Ein Teilprojekt des Luzerner Autobahnausbaus ist 2019 am lokalen Widerstand gescheitert. Gegen das verbleibende Projekt engagiert sich aktuell eine bunt gemischte Gruppe. Die Heterogenität sei wichtig, sagt die junge Klimaaktivistin Milena Hess. Während sich Politiker:innen wie der Grünen-Nationalrat und VCS-Luzern-Präsident Michael Töngi politisch einbringen, sei der Klimastreik für Aktionen verantwortlich. So spurten junge Klimastreikende Ende Januar zu Fuss und mit autogrossen Holzgestellen auf der überlasteten Luzerner Seebrücke in den Verkehr ein. Ihre Botschaft: Die Stadt Luzern hat bei der Verkehrswende Nachholbedarf.

Sogar die Prognosen des Bundes zeigen: Der zusätzlich geplante Autobahntunnel wird die Luzerner Innenstadt nicht entlasten. «Mit dem geplanten Ausbau wird der unbefriedigende Zustand auf längere Zeit zementiert», sagt Hess. Und mit dem Geld, das in den Tunnel investiert werden soll, könnten alle Luzerner:innen zehn Jahre lang gratis ÖV fahren. Die Städte müssten bei der Energiewende vorangehen, ist Hess überzeugt. Es gehe dabei nicht nur darum, was in der Stadt passiere: «Klimagase haben eine globale Wirkung – es geht auch um Solidarität.» Und dazu brauche es effektive Massnahmen, die bald umgesetzt würden.

Im Thurgau freut sich Walo Abegglen, dass in den Städten eine junge Generation den Widerstand gegen Autobahnen entdeckt hat. Er und seine lokalen Mitstreiter:innen konnten derweil Ende Januar einen grossen Etappenerfolg verzeichnen. Der Bundesrat hat entschieden, die vor zwei Jahren ins Nationalstrassennetz aufgenommene Bodensee-Thurtal-Strasse vorerst noch nicht bauen zu lassen. Und im Bundesparlament überlegen sich die Grünen, ob sie dereinst das Referendum gegen die eben vom Bundesrat gutgeheissenen Autobahnprojekte ergreifen. Der Widerstand gegen die Autobahnen wächst auf allen Ebenen.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

Förderverein ProWOZ unterstützen