AussteigerInnen: Ich schenke, also bin ich

Nr. 10 –

Sie verweigern sich dem Staat und dem Geld: In Mecklenburg-Vorpommern lebt eine radikale AussteigerInnengemeinschaft, die sich «die Schenker» nennt.

Der Mann, der mit seinem Vollbart, seiner klobigen Mütze und seiner an Felle erinnernden Bekleidung wie ein alter Trapper aussieht, nennt sich «Öff!Öff!». Eigentlich heisst er Jürgen Wagner. Aber seit Anfang der neunziger Jahre, als er die Schenker-Bewegung gründete, trägt er diesen Namen nicht mehr. Die Schenker-Bewegung? «Öff!Öff!»? Das klingt nach einer Wohlfahrtskommune mit infantilem Einschlag. Ersteres trifft in etwa zu, Letzteres dagegen mitnichten. Jürgen Wagner hat die Schenker-Bewegung, eine skurrile, im weitesten Sinne autark lebende Aussteigergemeinschaft, 1991 initiiert, um «nach den Wahrheiten und den Grundlagen» des Lebens zu suchen.

So weit, so unklar. Handelt es sich etwa um eine neue Sekte? Auch das nicht, denn die Schenker, die bis zum heutigen Tage gerade mal aus einer Hand voll Leuten bestehen, erheben nicht den ideologischen oder gar sektiererischen Anspruch, auf jede Frage eine fertige Antwort zu haben. Sie betrachten sich als konfessionell und parteipolitisch unabhängig. Sie möchten lediglich versuchen, einige «einfache Grundwahrheiten als einen Einigungsnenner anzubieten. Dieser Nenner wiederum soll eine Grundlage bilden, um gemeinsam weiter nach der Wahrheit zu suchen.» Gewaltfreiheit, Liebe oder auch das Teilen sind solche Nenner.

Verantwortlich für die Natur

Das Ziel der Schenker sei die «gewaltfreie Revolution der Liebe, eine menschliche Gesellschaft, in der nicht das Recht des Stärkeren gilt, sondern geschwisterlich geteilt wird und die Menschen liebevoll und verantwortlich miteinander und der Natur umgehen», sagt «Öff!Öff!», «dies kann aber nur funktionieren, wenn es nicht von oben verordnet wird, sondern sich die Menschen damit identifizieren und das tun, was sie wirklich wollen.»

Um die Schenker-Bewegung besser zu verstehen, muss man Wagners Lebensweg ein wenig genauer beleuchten. Als er, der in Gladbeck aufgewachsen ist, dreizehn Jahre alt war, stellten sich ihm zwei essenzielle Fragen: 1. Wie könnte es Menschen ergehen, die nicht an der Ellenbogengesellschaft partizipieren wollen? 2. Wo finde ich Antworten auf die wirklich wichtigen Fragen des Lebens? Ein paar Wochen später wurde er zum katholischen Christen, aber mit dieser Lehre war er nicht komplett einverstanden - sie erschien ihm zu gewalttätig -, und so versuchte er, seine eigenen Erkenntnisse des Teilens, der Nächstenliebe, des Gewaltverzichts und eines besseren Lebens zu verbreiten. Er diskutierte mit Pfarrern, Lehrerinnen und mit seiner Familie - aber meist ohne Erfolg, denn den meisten waren seine Vorstellungen zu radikal. Nach dem Studium der Philosophie und der Theologie - eher aus Neugier und Idealismus denn als berufliches Ziel - lebte er drei Jahre lang als Sozialarbeiter. Ihm wurde schnell klar und auch klar gemacht, dass der einst gehegte Berufswunsch Pfarrer aufgrund seiner radikalen Ansichten nicht infrage käme. Damals, so sagt er, dienten ihm die Ideen Mahatma Gandhis als Fixpunkte.

Auf der Pilgerreise

1991 schliesslich verschenkte er sein ganzes Hab und Gut und schickte sogar seinen Ausweis an den Bundespräsidenten, um damit seinen Ausstieg aus der Gesellschaft zu unterstreichen. Den Ausweis erhielt er jedoch mit dem Hinweis zurück, dass man nicht so einfach aus einem Staat austreten könne. Laut «Öff!Öff!» ist genau dieses Leben ohne Staat (ein laut der Schenker grundsätzlich auf Gewalt gegründetes Herrschafts- und Rechtssystem), ohne «die Sicherheit des Staates», ohne Versicherungen irgendwelcher Art, ohne Geld oder sonstige erforderliche Zahlungsmittel der grösste Unterschied zu anderen AussteigerInnen und Gemeinschaften, die sich «immer noch viel zu oft auf diese Institution verlassen».

So lebte der erste Schenker eine Weile auf der Strasse, dem Habitus einer eher diffusen christlichen Pilgerschaft verpflichtet, und ernährte sich von dem, was die Natur ihm bot oder man ihm gab, und versuchte, seine Vorstellungen und Ideale anderen Menschen näher zu bringen. Bei seinem Zug durch Deutschland lernte er «Tü!tü!», eine junge Schwäbin, kennen, die zur ersten konsequenten Anhängerin seiner Ideen wurde. Für diese Ideen brach die Abiturientin sogar die Schule ab. Bis 1994 blieben die beiden ohne festen Wohnsitz. In Dagelütz - bei Parchim in Mecklenburg-Vorpommern, etwa eineinhalb Autostunden nordwestlich von Berlin - fanden sie dann einen alten, fast schon verfallenen Hof, der ihnen kostenlos überlassen wurde, denn gekauft wird bei den Schenkern nichts.

Seitdem ist der Arbeitsschwerpunkt der Schenker im «Haus der Gastfreundschaft», so der Name des Anwesens, die Sozialarbeit. Es dient als «Zufluchtsstätte» für sozial Schwache, psychisch Kranke, AlkoholikerInnen, Obdachlose und natürlich für Menschen, die sich dieser Bewegung anschliessen wollen. Das haben in den letzten Jahren allerdings nicht allzu viele getan. Die meisten BewohnerInnen des Hauses, zurzeit leben fünfzehn Menschen dort, sind nur Gäste für unbestimmte Zeit. Die Schenker versuchen, in Dagelütz so autark wie möglich zu leben. Das heisst Ernährung auf eigener Basis oder als Geschenk von SympathisantInnen empfangen (so spendet beispielsweise die Schulküche in Parchim Essensreste), Herstellung eigener Kleidung, eine eigene Wasserversorgung - sogar ein Arzt lebt hier, denn krankenversichert sind die Schenker selbstverständlich auch nicht.

Um die Bewegung zu stärken, werden jährliche «Pilgertouren» unternommen. Ein oder mehrere Mitglieder gehen dann für ein paar Monate auf die Reise, um in Einkaufsstrassen oder auf bevölkerten Plätzen die Menschen von ihren Ideen zu überzeugen - mit bisher nur mässigem Erfolg. Seit sieben Jahren existiert zudem ein Schenker-Förderverein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Schenker in Sachen Öffentlichkeitsarbeit, Sozialarbeit oder bei der Landbefreiung zu unterstützen. Der Verein besteht aus Verbündeten, also Menschen, die die Schenker-Ideale und -Lebensweise theoretisch bejahen, bei denen das Ausmass praktischer Konsequenz aber offen ist. Diese Leute besitzen nach wie vor einen Ausweis und Geld.

Das erste Schenker-Kind

Radikal-idealistische Aussteiger, wirkliche Schenker, gibt es nur eine Hand voll. Demnächst allerdings wird sich die Gemeinde vergrössern, wobei die neue Person nicht freiwillig zur Gruppe stösst, denn «Öff!Öff!» und eine Schenkerin werden Eltern. «Das Kind soll so zur Welt kommen und aufwachsen, dass die Schenker-Lebensweise dabei zeigen kann, was sie aus eigener Kraft schaffen kann, anstatt Kinder zur Ausrede fürs 'bürgerliche Leben' zu machen.» Ob das Kind ausschliesslich Windeln aus grober Schafwolle und dergleichen tragen sollte oder was zu tun ist, wenn es Krankheiten hat, was die korrekte Ernährung für den Schenker-Nachwuchs ist - diese und viele andere Fragen werden genau ausgearbeitete Konzepte zum Thema Schenker-Kind beantworten: Ganz modern können sie demnächst auf www.die-schenker.de nachgelesen werden.