Schiedsrichter: «Fürs Geld pfeift niemand»
Was bewegt Menschen dazu, Wochenende für Wochenende auf irgendwelchen Äckern zu pfeifen? Oft genug für Senioren, denen nach zwanzig Minuten die Luft ausgeht und die dann nur noch schimpfen. Eine Reportage aus dem Zürcher Oberland.
«Ich bekomme für das Spiel heute 110 Franken Spesenersatz, 55 von jeder Mannschaft. Ich muss und will eine gute Stunde vor Spielbeginn auf dem Platz sein und muss anschliessend noch den Spielbericht schreiben. Das macht mit Hin- und Rückfahrt vier Stunden. Eine Schiedsrichterhose kostet achtzig Franken, ich brauche drei verschiedenfarbige Hemden in kurz- und langärmeligen Ausführungen, Stulpen, drei verschiedene Paar Schuhe für 150 bis 250 Franken. Man muss schon viel Freude am Fussball haben, wenn man Schiedsrichter wird. Fürs Geld pfeift niemand.» Aus Ismail Ibrahimi sprudeln Lebenslust und Redefreude. Er ist 37 Jahre alt, vor zwanzig Jahren aus Mazedonien in die Schweiz gekommen, eingebürgert, von Beruf Buschauffeur. Er pfeift heute das Spiel in der dritten Liga zwischen dem FC Wetzikon und dem FC Gossau auf der Breitenwies, wo die Eckfahnen im Frühlingswind und im Duft der Bratwürste schon fröhlich flattern.
Die Kabine für die Schiedsrichter ist weniger als zwei Meter breit und kaum drei Meter lang. Rechts die Dusche, ein kleiner Tisch mit einem Stuhl und eine Bank. Es klopft. Der Captain des Gastklubs zeigt das Tenue seiner Mannschaft und übergibt Ismail die Spielerpässe und die Mannschaftsaufstellung. Alle 200 000 aktiven Schweizer Fussballer haben einen Pass mit Foto, Geburtsdatum, Nationalität und Nummer. Die Angaben über Spieler und Ersatzspieler auf der Mannschaftsliste stimmen. Ein paar Minuten später kommt der Captain des FC Wetzikon. Wieder die gleiche Prozedur. Der Platzwart bringt Ball und Ersatzball, Ismail prüft sie und ruft die Goalies, die die Bälle ebenfalls prüfen müssen. Das Leder wird für gut befunden. Der Matchball bleibt beim Schiedsrichter, der Ersatzball kommt zur Trainerbank des Platzklubs. Dann empfängt und instruiert Ismail noch die zwei Helfer an den Aussenlinien, von denen je einer von den beiden Vereinen gestellt wird.
Ismail Ibrahimi pfeift erst seit knapp fünf Jahren und ist rasch in die dritte Liga aufgestiegen. Oft schiedsrichtert er auch schon in der zweiten Liga als Assistent, das hiess früher Linienrichter. «Ich habe selber gespielt, war aber nicht besonders gut. Ich kann nicht verlieren und habe als Spieler einige Karten gesehen. Nach einer Verletzung habe ich aufgehört und bin dann etwas später auf Rat eines älteren Kollegen Schiedsrichter geworden.»
Jeder Verein muss für die Mannschaften, die er für den Spielbetrieb meldet, auch einen Schiedsrichter stellen. Für die 12 000 Mannschaften, die in der Schweiz gemeldet sind - und es werden jedes Jahr mehr - gibt es aber nur 4500 lizenzierte Schiedsrichter. Der Verband löst das Problem, indem er einigen Schiedsrichtern zwei Aufgebote je Wochenende schickt. «Aber drei Spiele pro Wochenende liegen nicht drin, wenn du seriös pfeifen willst», sagt Ismail. Vereine, die für eine gemeldete Mannschaft keinen Schiedsrichter finden, müssen eine Mannschaft streichen oder 2000 Franken Busse an den Verband zahlen.
Ismail läuft sich eine Viertelstunde warm, dreht ein paar Runden um den Platz. Anschliessend begrüsst er die Mannschaften in ihren Kabinen und kontrolliert die Spieler. Dazu ruft er ihre Rückennummer auf, der Trainer liest die Namen, der aufgerufene Spieler meldet sich mit «hier», kehrt sich um, zeigt seine Rückennummer, hebt rechts, links seine Füsse an und zeigt Schienbeinschoner und Stollen - ziemlich zackig wird die ganze Mannschaft durchgegangen. Es geht aber nicht wirklich darum, die Gesichter der Spieler mit dem Foto zu vergleichen oder die Länge der Stollen auszumessen. Hier läuft ein Ritual ab, in dem sich die Spieler der Autorität des Unparteiischen unterstellen. Dem Captain des FC Gossau hängt das Hemd aus der Hose. Ismail: «Auf dem Platz dann sehe ich Sie aber anders!» Zum Schluss verabschiedet er sich mit: «Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen ein gutes Spiel.» Er versucht, einen zugleich lockeren und seriösen Ton anzuschlagen. «Ich bin Partner der Spieler, muss aber zugleich eine Autorität sein. Deshalb ist der erste Kontakt sehr wichtig. Die Spieler müssen spüren, dass da einer ist, der seiner Sache sicher ist.»
Eine letzte Kontrolle der Pfeife, der Münze, die zur Seitenwahl hochgeworfen wird, der roten und gelben Karte, der Spielerlisten mit Namen und Rückennummern und des Kugelschreibers. Dann pfeift Ismail im Gang, die Spieler kommen aus den Kabinen, formieren sich am Spielfeldrand in zwei Reihen und laufen zum Anspielkreis. Die zwei Mannschaften gehen aneinander vorbei und erheben die Hände zum Shakehands. Ismail blickt sich um zu den Goalies und zu den Helfern an den Aussenlinien, die seinen Blick mit Handzeichen und Fahnenwinken erwidern. Pfiff. Der Match beginnt.
Ismail hat zwei Probleme im Spiel. Einmal rücken die Wetziker Verteidiger weit nach vorn und stellen so die Offsidefalle. Bei weiten Pässen auf die Gossauer Stürmer muss er aus einer Distanz von dreissig, vierzig Metern blitzschnell entscheiden, ob die Stürmer offside stehen. Ismail nach dem Spiel: «Das ist ja das Problem in der dritten Liga. In der zweiten Liga hätte ich Assistenten, die anders als in den unteren Ligen auch Offside und Foulspiele anzeigen dürften und mich wirklich unterstützen könnten. Ich habe versucht, das Beste draus zu machen und immer nur das gepfiffen, was ich gesehen habe.»
Dann kurz vor Schluss foult der Gossauer Goalie einen Wetziker Stürmer ziemlich grob. Ein klarer Penalty. Nach dem Match diskutiert Ismail die Situation und meint, er hätte stur nach den Regeln auch Rot oder Gelb zeigen können. Aber er wollte wohl den Mann nicht völlig fertig machen. Immerhin stand es ja schon 4:1 für Wetzikon, dann der Penalty zum 5:1. Jetzt noch kurz vor Schluss Gelb oder Rot mit Spielsperre, Geldbusse und so weiter - mit solchen harten Strafen hätte er wenig Flexibilität und Fingerspitzengefühl gezeigt.
Beim Schlusspfiff versucht sich Ismail mit einem Dreiklang. Ismail: «Bei einem Schiri-Kollegen tönt der Schlusspfiff wie Musik: taatüüü-ta. Ich kann das leider noch nicht so gut wie der.» Händeschütteln mit den Captains, rasch das Telefon an den Verband mit der Meldung des Resultats - den Spielbericht schreibt er dann später am Abend - und ab unter die Dusche. «Was für eine Note hättest du mir gegeben?», fragt Ismail seinen Freund Cafiero Mazzone, einen über siebzigjährigen Schiedsrichter, der Ismail zum Pfeifen animiert hat und ihn immer noch begleitet und fördert. So auch heute. «Einen Achter.»
Schiedsrichter werden von besonders ausgebildeten Inspizienten mindestens einmal im Jahr kontrolliert, die unangemeldet zuschauen. Die Noten reichen von null bis zehn, aber weniger als sechs kommt praktisch nicht vor, «denn mit einem Fünfer oder weniger bist du bald die Lizenz los. Einmal hatte ich sogar einen Neuner», sagt Ismail. «Alles wird benotet: Regelkenntnis, Persönlichkeit, Fitness, Gestik, Umgang mit den Spielern, Beachten des Umfelds.» Es kommt vor, dass Punkte abgezogen werden, wenn der Schiedsrichter ein paar spielende Kinder bei den Werbetafeln am Spielfeldrand nicht wegscheucht. Aufgrund der benoteten Leistungen können Schiedsrichter aufsteigen. «Aber oben, spätestens ab der zweiten Liga, wird es sehr eng.»
Warum pfeifen Cafiero Mazzone und Ismail Ibrahimi Wochenende für Wochenende oft genug auf irgendwelchen Äckern für irgendwelche Senioren, denen nach zwanzig Minuten die Luft ausgeht und die dann kaum noch spielen und nur noch schimpfen? Geht es ihnen um den Genuss der Macht, um die Lust auf diktatorische Entscheide, die kaum jemand rückgängig machen kann, um die Freude, Strafen oder Demütigungen auszusprechen? Warum setzen sie sich Beschimpfungen, Buhrufen, Kritik und immer mehr auch Gewalt aus? Cafiero: «Vielleicht gibt es ein paar wenige Schiedsrichter, die das wegen des Machtgefühls machen. Aber den meisten von uns geht es um die Freude am Sport. Auch wenn ich nicht pfeife, bin ich immer auf dem Platz, rede mit jungen Schiedsrichtern, zeige ihnen, was sie besser machen können, und versuche, sie zu fördern. Fussball ist ein Teil von meinem Leben, ob ich nun pfeife oder nicht.» Ismail: «Wenn ich auf dem Platz oder am Fernsehen ein Spiel sehe, achte ich am meisten auf den Schiedsrichter, auf seine Gestik, seine Pfiffe, sein ganzes Verhalten, und versuche, davon zu lernen. Vor jedem Spiel bin ich konzentriert und motiviert. Ich bin kein Einzelgänger und würde nie allein durch die Wälder joggen. Auf dem Platz laufe ich in die eine Richtung, muss stoppen, umkehren, mich wieder neu orientieren, immer wach und aufmerksam, ich will alles sehen und möchte keinen Fehler machen. Ich spüre die Zuschauer, wie sie auch mich beachten, meine Pfiffe kommentieren mit Applaus oder Buhrufen. Bis jetzt hab ich höchstens vor 300 oder 400 Zuschauern gepfiffen, möchte gern aufsteigen und dann vor mehr Zuschauern pfeifen. Nach jedem Spiel fühle ich mich gut und freue mich, wenn mir auch die Spieler, die verloren haben, die Hand geben. Wenn ich nicht gepfiffen habe, hänge ich müde herum.»
Morgen Sonntag geht Ismail als Assistent an ein Spiel der zweiten Liga, von Montag bis Freitag fährt er dann mit seinem Bus. Am Samstag dann wieder Fussball, das Spektakel, von dem Ismail ein Teil ist, der ihn nährt und den er nährt mit seinen Pfiffen. Ein kurzer, leiser bedeutet «nicht so schlimm», ein langer «aufpassen» und ein ganz langer, greller «fertig lustig». Am Schlusspfiff muss Ismail Ibrahimi bis zum Aufstieg in die zweite Liga noch ein bisschen üben.
Rot fürs «Arschloch» - unbedingt
«Wenn mir ein Spieler im Affekt 'Arschloch' sagt und zwar so, dass nur ich das höre, dann stell ich ihn nicht vom Platz. Ich geh davon aus, dass er sich kurz abreagieren musste und bezieh das nicht auf mich. Sagt er das aber so laut, dass auch noch andere das hören, dann muss ich ihm Rot zeigen.» Im Saal des Restaurants Drei Linden in Wetzikon sitzen an vier Tischen je zehn Schiedsrichter aus der Gruppe Zürich-Oberland. Sie absolvieren einen der zwei jährlichen obligatorischen Instruktionsabende und brüten über Problemlösungen, die einer von ihnen im Plenum vortragen muss. Die Stimmung ist aufgeräumt: Gelächter, Witzeleien, Zwischenrufe, Frotzeln. Es geht heute nicht um Regelauslegungen, sondern um das Verhalten in kritischen Situationen. Der junge Schiedsrichter, der gerade dran ist und sich so überraschend nachdenklich geäussert hat, muss über verbale oder körperliche Attacken von Spielern, Trainern oder Zuschauern auf Schiedsrichter referieren. Der Instruktor ist gar nicht zufrieden: «Schiedsrichterbeleidigungen müssen in allen Fällen mit Ausschluss geahndet werden. Wenn ihr das nicht macht, untergrabt ihr unsere Autorität. Und das ist der Anfang vom Ende.»
Schiedsrichter sind vier Grundsätzen verpflichtet: Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Neutralität, Ehrlichkeit. Oberstes Gebot bei allen Zwischenfällen: Ruhe bewahren. Dazu sind gute Umgangsformen gefordert, Konzentration, Charakter und Ausstrahlung, Fingerspitzengefühl, Menschenkenntnis und Flexibilität.
Konditionell müssen die Refs auch einiges drauf haben. In der dritten Liga heisst das zum Beispiel: 2400 Meter in zwölf Minuten zurückzulegen und einen 200-Meter-Sprint in 36 Sekunden.
Linienrichter
In der letzten WOZ wurden die vereinsgebundenen Linienrichter der unteren Ligen porträtiert («Der Zigaretten rauchende Akteur»), die das Fähnchen aus Solidarität halten und im Gegensatz zu den Schiedsrichtern und den Assistenten ab der zweiten Liga keine Schulung erhalten.