Durch den Monat mit Luc Schaedler (Teil 1): Sind die Tibeter Weicheier?

Nr. 31 –

Luc Schaedler: «Tibeter, die auf die chinesische Polizei losgehen, passen nicht zu unserem Bild vom gewaltfreien Tibet.»

Luc Schaedler, Sie sind Filmemacher und Tibet-Experte. Trifft man Sie dieser Tage im Hallenstadion bei den Teachings des Dalai Lama?
Nein, mein Interesse an Tibet ist sozialer und politischer, nicht spiritueller Natur.

Was sind das denn für Leute, die sich derart für den Dalai Lama interessieren?
Schwierig zu sagen. Die Tibet-Fangemeinde ist breit gefächert. Aber im Westen gibt es vor allem eine riesige Gruppe von Leuten, die sich ausschliesslich für Spiritualität und den Buddhismus interessieren oder für die «Pop-Ikone» Dalai Lama.

Mit Tibet assoziieren wir Religion, Weisheit, Gewaltlosigkeit. In Ihrem Film zeigen Sie ein anderes Tibet, eines, in dem Mönche Widerstand leisten, sogar mit Steinen ...
Ja, denn das westliche Bild vom gewaltlosen Tibet ist falsch.

Wird das die Tibet-Organisationen, die Ihr Projekt unterstützt haben, nicht schockieren?
Nein, ich glaube nicht, denn für meinen Film habe ich lange und mit viel Liebe für Tibet recherchiert – das ist beim Betrachten des Films spürbar. Ausserdem sind die meisten Tibeter froh über alles, was über ihr Land geschrieben und gezeigt wird. Was ich allerdings für ein grosses Problem halte.

Weshalb?
Es wird oft nicht differenziert, 
ob es dem, was die Tibeter von sich 
selber vermitteln wollen, dient oder 
ob es dem eher schadet.

Seit Anfang der neunziger Jahre haben Sie im Zürcher Kino Xenix mehrere Filmreihen zum Thema
Tibet veranstaltet. Gab es damals schon eine kritische Auseinandersetzung?
Nicht wirklich. Die politische Auseinandersetzung verwechselte man damit, dass man kritisch war gegenüber China. Das ist relativ einfach. Aber Kritik am idealisierten Bild von Tibet gab es damals noch nicht.

Mit idealisiert meinen Sie das Bild des gewaltfreien Tibet?
Ja. Interessanterweise sind die Bilder, die beim Einmarsch der Chinesen in Lhasa um die Welt gingen, diejenigen von Tibetern, die von Chinesen vermöbelt wurden. Aber das Verrückte ist, dass die Tibeter diese Demonstrationen angezettelt hatten. Es gab einen gewalttätigen Widerstand, der mehrere Tage dauerte. Ich finde es einfach wichtig 
zu wissen, dass Frustration, Aggression und Risikobereitschaft selbst tibetische Mönche zu Steinewerfern machten. Diese Bilder aber wurden nicht gezeigt. Dabei wären gerade sie wichtig gewesen, um unsere Vorstellung der Tibeter als hilflose Opfer zu demontieren. 
Sie waren aktiv und haben radikal 
Stellung bezogen, nahmen nicht einfach passiv hin, was mit ihnen und
 ihrem Land geschah.

Weshalb wurden diese Bilder hier nicht gezeigt?
Vermutlich, weil die nicht zu unserem Bild vom gewaltfreien Tibet passten. Wir können oder wollen uns nicht 
vorstellen, dass die friedliebenden 
Tibeter auf die chinesische Polizei 
losgingen und chinesische Läden anzündeten.

Die tibetische Gewaltfreiheit ist also pure Projektion?
Es ist grösstenteils eine Projektion, 
die natürlich genährt wurde durch 
die politische Strategie des Dalai Lama, 
seit er und viele Tibeter sich im Exil 
befinden. Ein Beispiel: dass der Dalai Lama bei seiner Flucht von tibetischen Guerillas, die von der CIA unterstützt waren, an die Grenze gebracht wurde, dass er wusste, seine Helfer würden zurückkehren und gegen die Chinesen 
kämpfen, dass er sie sogar segnete: 
All das stand in der ersten Dalai-
Lama-Biografie noch ausführlich 
drin, in der zweiten dann allerdings nicht mehr.

Diese Anekdote passte wohl nicht mehr ins Bild.
Nein, denn die Politik des Dalai Lama war, Tibet als friedliebendes Land mit einer gewaltfreien Religion zu verkaufen. Er sagt ja immer wieder: Was die Tragödie für Tibet war, ist auch ein Glück im Unglück, weil sich so der Buddhismus internationalisieren lässt. Oder anders: Wir Tibeter können auch zufrieden sein mit der Situation, dass wir unsere grosse Philosophie und Religion durch unser Schicksal verbreiten können. In diesem Zusammenhang beriefen sich der Dalai Lama und seine Entourage immer auch auf den Begriff der «nonviolence», der zuvor über Gandhi und die 68er-Bewegung zu einer Widerstandsstrategie mit zivilem Ungehorsam entwickelt worden war. Der Begriff wird jetzt zum Teil vom 
Dalai Lama, den Tibetern, aber auch den Westlern zurückinterpretiert auf die ganze tibetische Geschichte. 
Es wird behauptet, Tibet sei schon 
immer nonviolent gewesen, was so 
völliger Blödsinn ist.

Kann denn ein harmonisches, 
gewaltfreies Zusammenleben nur in der Theorie funktionieren?
Ja, denn die Quintessenz einer Religion ist oft nur philosophisch «praktizierbar». Im Alltag funktioniert die 
Religion nach anderen Gesetzen, 
ist ambivalenter – auch in Tibet. 
Dieses Friedliebende, diese Nonviolence, dieses Spirituelle und für uns so 
Inspirierende, das wir in allen Tibetern und ihrem Alltag zu sehen glauben, stimmt einfach nicht. Und man erweist den Tibetern damit einen Bärendienst.

Weshalb?
Weil wir die Tibeter damit in ihrem Widerstand behindern. Bei Gandhi oder auch in Südafrika war der zivile Ungehorsam viel radikaler. Gandhi hat die Engländer an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht, Tabus 
verletzt. Er hat sie das Gesicht verlieren lassen. Diese Art von radikalem gewaltfreiem Widerstand gibt es unter den
 Tibetern kaum, weil es sofort heisst: Das ist bereits aggressiv.

Mit anderen Worten: Die Tibeter heute sind Weicheier im Vergleich zu Gandhi und den Indern damals?
Vielleicht kein schlechter Ausdruck (lacht). Aber man muss es unbedingt differenzierter anschauen ...

Darauf kommen wir nächste 
Woche garantiert zurück.

Luc Schaedler ist Ethnologe, 
Filmwissenschaftler und Tibet-Kenner.

Nachtrag: Siehe auch die Besprechung von Luc Schaedlers Film «Watermark» in WOZ Nr. 45/13.