Durch den Monat mit Rolf Bossart (Teil 1): Marx und Religion?
WOZ: Sie haben kürzlich in St. Gallen einen Kurs über Karl Marx organisiert. Worum ging es da?
Rolf Bossart: Wir haben zusammen Originaltexte gelesen und erläutert. Es ging darum, Ideen, die ein Denker in einer bestimmten historischen Situation entwickelt hat, heute wieder zu lesen.
Wie war das Echo?
Erstaunlich gross, wir waren 25 Leute, das ist für St. Gallen sehr viel. Ich war überrascht, dass gar nicht so viele junge Leute teilnahmen. Das Durchschnittsalter war zwischen vierzig und fünfzig.
Wie erklären Sie sich das?
Ich habe den Eindruck, dass ein immenses Bedürfnis nach Ideen da ist. Die Leute in diesem Alter sind nicht zufrieden mit den Antworten, die in den Medien präsentiert werden. Sie wollen der Sache selber auf den Grund gehen. Sie denken: «Das kann doch nicht alles sein», aber fühlen sich ohnmächtig gegenüber dieser Gesellschaft, in der scheinbar alles so perfekt funktioniert.
Sie und Franz Schibli, die den Kurs organisiert haben, sind beide Theologen. Wie passt das zusammen?
Die linke Theologie, die vom Marxismus und von der Befreiungstheologie in Lateinamerika inspiriert ist, hat eine lange Tradition. Es gibt eine Verwandtschaft zwischen Theologie und Marxismus. Beides hat mit Glauben zu tun. Vor allem das Motiv der Erwartung ist sowohl theologisch als auch marxistisch. Man hofft nicht nur passiv, dass irgendetwas kommt, sondern erwartet aktiv: Jetzt geschieht dann gleich etwas, und dem geht man notfalls auch entgegen.
Aber Religion ist doch nach Marx Opium des Volkes?
Marx sagt, man könne sich nur politisch befreien, indem man sich von der Religion befreit. Aber sobald sich die Kirche vom Staat löst – und das ist das Ideal der linken Theologen: dass sich die Kirche gegen die Unterdrückungsmechanismen von Staat und Kapital stellt –, bekommt sie eine andere Funktion. Die Bibel ist auch eine Befreiungsgeschichte, mit dem Auszug von Israel aus der Knechtschaft in Ägypten. Befreiung von Unterdrückung ist ein Thema, das sich wie ein Strang durch die Bibel zieht.
Wieso studierten Sie Theologie?
Ich bin noch so richtig katholisch aufgewachsen. Ich hatte die ganze Jugend über nur katholische Freunde. War in der Pfarrei, Jungwacht und ging als einer der wenigen jeden Sonntag in die Kirche. Mit zwanzig spielte ich mit dem Gedanken, Priester zu werden.
Was taten Sie in der Kirche?
Nicht viel, ich habe mich vor allem geistig weitergebildet, wenn die Predigt gut war. Und wenn sie schlecht war, habe ich Leute beobachtet und nachher Klatsch darüber ausgetauscht. Ich habe eine Gemeinschaft erlebt, die aus lauter Gewohnheit verbunden war. Und das war gar nicht so schlecht. Es war eine sachliche, nüchterne Gemeinschaft.
Das tönt jetzt fast reformiert ...
Das Brimborium der katholischen Kirche wird auch hochgespielt. Wenn ich Leute fasziniert von der katholischen Kirche reden höre, sind es garantiert solche, die der Kirche sehr fern stehen. Die Distanz erzeugt die Faszination.
Aber mich als Katholikin haben die Rituale als Kind schon fasziniert. Rorate zum Beispiel, die Frühmesse im Advent mit den vielen Kerzen.
Stimmt. Es gibt schon Feiern, die eine gewisse Kraft haben. Ich bin eben in einer Zeit aufgewachsen, in der die Kirche modern werden wollte und vielleicht fast zu viel alte Liturgieformen abgeschafft hat. Roratefeiern organisiere ich heute selber bei meiner Arbeit im Gymnasium Appenzell. Die sind gut besucht.
Sind die Appenzeller Schülerinnen und Schüler denn religiös?
Die Situation ist lustig: Appenzell Innerrhoden sieht sich noch als katholischen Kanton. Religion ist deshalb ein voll zählendes Pflichtfach. Aber viele meiner Schüler haben kaum mehr einen Bezug zu Religion. Das machts spannend. Viele kommen schon so weit von aussen, dass sie gar kein belastetes Verhältnis mehr zu Religion haben, sondern das fast naiv einfach einmal anhören und versuchen nachzuvollziehen.
Ist das Fach gerade deshalb wichtig, weil es völlig quer steht zu allem, was die Jugendlichen sonst den ganzen Tag hören?
Ja, aber das müssen sie zuerst einmal merken. Ich arbeite viel mit Vergleichen, zum Beispiel zur Mathematik. Mathematik versucht widerspruchsfrei und logisch zu denken: Entweder ist etwas so, oder es ist nicht so, ein Drittes gibt es nicht. Theologisches Denken hingegen ist ein Denken mit und in Widersprüchen: Wir werden geboren und sterben gleich wieder. Wir wollen Glück, aber dauernd gibts Trauer und Streit. Wir wollen realistisch sein, aber kriegen die Träume doch nicht weg. Das sind die Grundwidersprüche des Lebens, und wenn man das nicht einfach wegrationalisieren oder wegharmonisieren will, muss man eben damit arbeiten: Spannungen erkennen, aushalten und produktiv machen.
Rolf Bossart, 35, ist Theologe, Vater und Religionslehrer. Er lebt in St. Gallen.