Durch den Monat mit Rolf Bossart (Teil 2): Begeistert scheitern?

Nr. 49 –

Rolf Bossart: «Wir dürfen uns nicht entmutigen lassen durch Enttäuschungen.»

Sie haben das letzte Mal von den Gemeinsamkeiten von Religion und Marxismus gesprochen: Beide erwarten das Paradies. Aber man kommt doch sehr wahrscheinlich nie dort an.
Rolf Bossart: Die Linke hat ja lange über das Nie-Ankommen nachgedacht. Man kam auf Formeln wie «Der Weg ist das Ziel» oder auf die Politik der kleinen Schritte. Ich denke, dass wir gerade deshalb heute noch viel fatalistischer und gelähmter sind. Denn man hat dadurch das grosse Ziel aus den Augen verloren: die gerechte Gesellschaft oder, wie es Marx sagt, «jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen». Wir müssen wieder sagen können, wir haben dieses Ziel, und wir gehen dahin.

Aber ist es nicht frustrierend, nie anzukommen?
Natürlich – gerade wenn ich ein grosses Ziel habe, scheitere ich dauernd. Ich glaube aber nicht, dass der Ausweg ist, den Anspruch zu reduzieren. Sondern dass wir lernen müssen, uns nicht entmutigen zu lassen durch Enttäuschungen. Wie machen wir das? Indem wir schon auf diesem Weg die neue Gesellschaft leben, die wir erreichen wollen. Zum Beispiel an einer Demonstration: Sie ist einerseits symbolisch – man möchte etwas zeigen –, man kann aber auch sagen, wir zeigen es den andern. Wir zeigen ihnen, wie man es eigentlich machen müsste. Nämlich sich herauslocken lassen, in die Öffentlichkeit gehen, miteinander Zeit verbringen, sich in eine bestimmte Richtung bewegen.

Man soll den Aktivismus also so organisieren, dass er schön ist, etwas, das man gerne macht.
Ganz klar, ja. Wenn es darum geht, ein Referendum vorzubereiten oder eine Solidaritätsaktion, kommt von vielen Linken diese Pflichthaltung: Wir müssen ja fast. Vielleicht wäre es besser, einige Sachen sausen zu lassen und etwas zu suchen, das keine Pflichtübung wird.

Haben Sie schon Aktionen erlebt, in denen diese Begeisterung mitspielte?
Ja. Was wir in St. Gallen rund um das neue Polizeireglement gemacht haben, ist ein gelungenes Beispiel dafür. Der Stadtrat beschloss ein neues Polizeireglement – mit Wegweisungsartikel, gelockerten Bestimmungen zur Videoüberwachung und harten Strafen gegen wildes Plakatieren. Wir hatten Glück, wir mussten keinen Referendumskampf führen. Die SVP hat uns das abgenommen, weil sie ihre repressive Politik in einer Abstimmung bestätigt haben wollte. So hatten wir eine klare und bereits zugespitzte Situation und konnten uns ganz auf einen lustvollen Abstimmungskampf konzentrieren. Zusätzlich konnten wir mit dieser Thematik ganz viele andere Fragen verknüpfen: Wer ist Stadt? Wem gehört die Stadt? Was heisst urbanes Zusammenleben?

Was haben Sie konkret gemacht?
Wir wollten einen Schneeballeffekt auslösen. Wir rissen viele grosse Themen an und taten so, als wären wir extrem viele. Das funktionierte, andere stiegen ein, organisierten Aktionen und Veranstaltungen. Zum Schluss machten wir ein grosses Fest in einem zukünftigen Abbruchgebiet. So etwas hatte es in St. Gallen seit fünfzehn Jahren nicht mehr gegeben. Wir hatten gutes Werbematerial, und wir konnten die St. Galler Monopolzeitung, das «Tagblatt», benützen für eine Art Medienkampagne, weil wir einfach die aktivere Seite waren.

Ist etwas von der Begeisterung geblieben, nachdem die Abstimmung verloren ging?
Ich denke schon. Aber wenn eine Bewegung nicht immer aufschnellen und wieder versanden soll, braucht es doch auch Organisationen, die in den ruhigeren Zeiten dranbleiben. Die den mühsamen Weg der Sitzungen und Anträge auf sich nehmen. Dort ist das Frustpotenzial am grössten. Und darum ist Solidarität mit solchen Organisationen wichtig, gerade in einer so kleinen Stadt: die Leute unterstützen, sich zeigen, das Gespräch suchen, nachfragen. Das ist auch beim Polizeireglement wichtig: dass wir im Januar, wenn es in Kraft tritt, der Polizei auf die Finger schauen, Anlaufstellen organisieren und so weiter. Eine andere Gruppe, die momentan kontinuierliche Arbeit leistet, ist das Solidaritätsnetz Ostschweiz, das sich für Flüchtlinge mit Nichteintretensentscheid einsetzt.

Wie erklären Sie sich, dass ausgerechnet in St. Gallen so eine grosse Solidaritätsbewegung entstanden ist? Es ist ja nicht gerade eine linke Stadt.
Vielleicht gibts da ein brachliegendes Potenzial. Aber das Solinetz konnte vor allem entstehen, weil zwei Strukturen schon bestanden: eine kritische, ökumenische Kirchgemeinde und der Antirassismustreff Cabi, der seit mehr als zehn Jahren antirassistische Knochenarbeit leistet. Und die haben sich zusammengefunden, was nicht selbstverständlich ist, denn kirchliche Kreise und linke Kreise bekämpfen sich häufig oder nehmen einander nicht ernst.

Rolf Bossart, 35, ist Theologe, Scheiterer und Vater in St. Gallen.