Naturparks: Unter dem Gantrisch

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Die Region Gantrisch südlich von Bern bewirbt sich um das Label «Regionaler Naturpark». Sie erhofft sich damit eine höhere Wertschöpfung.

Sense und Schwarzwasser haben sich auf halbem Weg zwischen Bern und Schwarzenburg tief in die Molasse eingegraben. Eine kleine Brücke war bis vor hundert Jahren der einzige Übergang übers Schwarzwasser - wer mit einem Fuhrwerk unterwegs war, musste zusätzlich Pferde anschirren, um aus dem Tobel wieder hoch zu kommen. Die Region unterhalb der Gantrisch-Kette war schwer zugänglich und verharrte in Armut.

Heute überspannt eine elegante Brücke die Schlucht. Kürzlich wurde sie verstärkt, so dass auch 40-Tönner sie überqueren können. Sense und Schwarzwasser liegen heute in Naturschutz- und Naherholungsgebieten. Im Sommer treffen sich hier Leute aus der Agglomeration Bern zum Baden und Bräteln, aber auch NudistInnen aus ganz Europa.

Seit 91 Jahren gibt es im Engadin den Nationalpark. Bislang standen die Interessen der Bauernschaft, der Tourismusbranche und des Gewerbes gegen weitere solche Schutzgebiete. Zu Zeiten der Konjunktur wollte man sich alle Optionen offenhalten. Heute sieht alles anders aus: Der Bedarf an landwirtschaftlich produktiver Fläche geht zurück. Vor allem in den Alpen ist Bewirtschaftung aufwendig und lohnt sich ökonomisch nicht mehr. Damit schwindet die vom Menschen geprägte Kulturlandschaft, und Wald macht sich breit. Gleichzeitig nimmt der Wunsch nach Bewahrung von Landschaftsbildern und Kulturlandschaften zu.

Nun hat das Parlament die entsprechende gesetzliche Regelung neu formuliert: Neben klassischen Nationalparks soll es in Zukunft zwei weitere Arten von geschützten Landschaften geben: Regionale Naturparks und Naturerlebnisparks. Letztere sollen Inseln in städtischem oder stadtnahem Gebiet sein. Regionale Naturparks hingegen dienen dem Erhalt der Kulturlandschaft und sollen, gestützt auf Prinzipien der Nachhaltigkeit, Ökonomie, Ökologie und soziale Strukturen gleichermassen fördern (vgl. Kasten).

Schwarzenburg ist ein «peripheres Zentrum». Die S-Bahn verbindet den Ort in einer halben Stunde mit Bern. Dies brachte dem Dorf einen Bevölkerungsaufschwung und eine kleine politische Revolution. Derzeit sitzt erstmals kein Bauer mehr in der Gemeindeexekutive. Grösstes Unternehmen im Dorf ist die Firma Gilgen, Produzentin von automatischen Türen. Sie gehört zur international tätigen Kaba-Gruppe, und unternehmerische Entscheide fallen nicht mehr in der Region. Anfang der achtziger Jahre erschoss vor dem Restaurant Jäger der frühere Gemeindepräsident einen Jugendlichen, weil er ihm den Schlaf geraubt hatte. Im darauf folgenden Prozess erhielt der Angeklagte eine milde Strafe: ein Jahr Gefängnis auf Bewährung.

Wo immer die Errichtung eines neuen Nationalparks diskutiert wird, irritiert dessen weit gehender Schutzstatus die lokale Bevölkerung. Bei Regionalen Naturparks scheinen die Bedenken geringer zu sein. Bereits haben sich mehrere Regionen um das geschützte Label «Regionaler Naturpark» beworben: der seit 1999 bestehende Regionalpark Chasseral, der Jura Vaudois, das Vallon de Réchy oberhalb von Sierre, das Val Mustair, das bereits bestehende Biosphärenreservat Entlebuch und das Diemtigtal im Berner Oberland.

Auch die Region Gantrisch bewirbt sich um das Label. Die PromotorInnen veranlassten eine Machbarkeitstudie und reichten ihre Unterlagen bei den zuständigen Stellen des Kantons ein. Nun sind sie daran, die nötigen lokalen Strukturen aufzubauen. Zudem geben sie mit der «Gantrischpost» eine regelmässige Zeitschrift heraus. «Durch das Label ‹Regionaler Naturpark› wird die Gegend aufgewertet», sagt Walter Lüthi vom Regionsverband Schwarzwasser, einem der Initianten des Projektes: «Wir haben bereits die Unterstützung der zuständigen Gremien von Stadt und Agglomeration Bern.» Vom Label «Regionaler Naturpark» erhofft sich Lüthi einen Imagegewinn und damit eine höhere Wertschöpfung, zum Beispiel durch die bessere Vermarktung regionaler Produkte.

Guggisberg liegt im äussersten Westen des Gebiets. Von hier aus reicht der Blick über die Sense ins Freiburger Land hinüber. Hier soll das melancholische Schweizer Volkslied «Ds Vreneli ab em Guggisberg» entstanden sein. Auf dem Dorfplatz hat man dem Vreneli sogar ein Denkmal gesetzt. Auch Walter Vogts

Roman «Schizogorsk» spielt teilweise hier: In diesem Dorf werden Einheiten der Schweizer Armee zusammengezogen, die den Widerstand der EinwohnerInnen des fiktiven Dorfes Zwiespältigen gegen ein geplantes Atomkraftwerk brechen sollen. In Guggisberg gibt es neben einem grossen Hotelkomplex - er wurde früher oft vom Militär genutzt - nur wenige Häuser. Dahinter erhebt sich wie der «Buckel eines Dromedars» (Vogt) das Guggershörnli, ein beliebtes Ausflugsziel.

Walter Lüthi sitzt in einem kleinen Büro im Zentrum von Schwarzenburg. Von hier aus koordiniert er den regionalen Planungsverband, der sich um das Label «Regionaler Naturpark» bemüht. Der Handlungsbedarf ist für Lüthi klar: «Es braucht Massnahmen, um die Strukturen des ländlichen Raums zu stützen. Zumal die Subventionen für die Bauern, die hier oben immer noch einen wesentlichen Anteil an der Wirtschaft ausmachen, immer weiter zurückgefahren werden.» Bund und Kanton wollen mit ihrer neuen Regionalpolitik nicht zur Erhaltung von traditionellen Strukturen beitragen, sondern vor allem weniger Geld in diese Gegenden pumpen. «Also müssen wir uns etwas einfallen lassen.» Lüthis Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Das hiesige Pro-Kopf-Einkommen ist tief, die Wertschöpfung ebenso, die Bevölkerungszahl stagniert.

Der Regionale Naturpark kommt nicht von selbst. «Wir machen uns über die mögliche Ausdehnung des Parks Gedanken.» Vorgesehen sei die Zusammenführung von zwei sehr unterschiedlichen Gebieten: Das Gürbetal und die stadtnahen Siedlungen auf dem Längenberg seien bevorzugte Lagen für Gewerbe und Wohnen. Das Schwarzenburgerland hingegen sei ärmer. Auf grosser Fläche verteilen sich Einzelhöfe; je näher sie beim Gantrisch liegen, desto bescheidener sind sie. «Der Planungsverband - ein regionales Gremium - hat vorgespurt», sagt Lüthi. «Nun müssen wir mit den Unterlagen in die einzelnen Gemeinden, die dortigen Bedürfnisse abklären und Schwerpunkte festlegen: Wo soll in ers-ter Linie gewohnt werden? Wo hat das Gewerbe Priorität? Wo hat der Schutz der Natur Vorrang? Wo gibt es touristisches Potenzial?»

Von Guggisberg aus führt die Strasse über Riffenmatt zum Gurnigel. Von der Passhöhe aus sind die steil aufsteigenden Zacken der Gantrisch-Kette zu sehen. Hier warnen Tafeln vor Blindgängern, denn die Flanken der Kalkberge sind Zielgelände für die Panzer des nahe gelegenen Waffenplatzes Thun. In diesem Gebiet befinden sich mehrere Moorlandschaften. Vom Gipfel des Gantrisch sind nicht nur die Berner und die Walliser Alpen, sondern auch die Dampffahne von Gösgen zu sehen.

An der Strasse Richtung Riggisberg befinden sich die Reste des einstigen Bäderkomplexes Gurnigel-Bad, einst ein beliebter Kurort. Es soll einst Züge mit direkten Wagen aus England gegeben haben, die bis ins Gürbetal gefahren sind. Heute fahren täglich zwei Postautos am Restaurant vorbei. Einmal im Jahr rasen die Autos beim traditionellen Bergrennen zum Gurnigel hinauf.

Was ist nachhaltige Entwicklung? Lüthi weiss, dass in diesem Begriff viel Spielraum für Interpretationen steckt. «Da können sich Konflikte anbahnen, etwa beim Einzonen von Bauland.» Aber er ist zuversichtlich, dass die verschiedenen Interessen unter einen Hut gebracht werden können. Ganz willkürlich ist der Begriff «Nachhaltigkeit» nicht. Immerhin kann sich Lüthi auf die Kategorien stützen, die das Bundesamt für Umwelt (Bafu, früher Buwal) ausgearbeitet hat.

Das Bafu seinerseits will sich nicht wie ein fremder Vogt aufführen. Klar gebe es Kriterien für die Verleihung des Labels «Regionaler Naturpark», sagt Bafu-Experte Daniele Oppizzi, aber diese würden regelmässig auf ihre Tauglichkeit überprüft und allenfalls angepasst. «Falls ein Gebiet gegen die Grundsätze des Labels verstosse, müssen wir dar-über reden und die Entwicklung langsam korrigieren.» Im Übrigen verleihe das Bafu das Label auf Empfehlung der Kantone. Und noch etwas: Nicht alle KandidatInnen werden berücksichtigt werden können.

Zwischen Riggisberg und Zimmerwald erstreckt sich das Plateau des Längenbergs. Wer hier wohnt, hat die Berner Alpen als permanente Nachbarn - in angenehmer Distanz. 1915 traf sich Lenin mit seinen Genossen - getarnt als ornithologische Gesellschaft - zu einer geheimen Konferenz im Dorf Zimmerwald. Ziel war, die seit dem Beginn des Ersten Weltkrieges zerrissenen Fäden der internationalen sozialistischen Bewegung neu zu knüpfen sowie pazifistische Kräfte zu stärken. Daran wird man im Dorf nur ungern erinnert.

Am Dorfrand befindet sich eine Abhörstation des VBS. Am Wochenende kommen die StädterInnen und wandern zur Sternwarte, zur Bütschelegg, zum Von-Tavel-Denkmal. Abends gehen sie heim - ohne in der Gegend viel Geld ausgegeben zu haben. Wird sich dies ändern, wenn die Region südlich von Bern zwischen Belp, Gantrisch und Sense sich dereinst mit dem Logo eines «Regionalen Naturparks» schmücken darf?



Nachhaltigkeit - was ist das?

Der ursprünglich aus der Forstwirtschaft stammende Begriff «Nachhaltigkeit» hat sich heute in jeden Diskurs und jeden Jargon eingeschlichen - egal, ob es um natürliche Prozesse oder ein abstraktes System wie die Geldwirtschaft geht. Er hat es bis in die neue Bundesverfassung geschafft. In Artikel 73 ist die Nachhaltigkeit verankert: «Bund und Kantone streben ein auf Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruchung durch die Menschen anderseits an.» Das ist sehr abstrakt gehalten und verhindert weder permanente Grenzwertüberschreitungen (insbesondere von Ozon und Feinstaub) noch die Absicht, eine pharmazeutische Fabrik mitten ins Seeland zu stellen. Und ein Umdenken in der Diskussion über wirtschaftliches Wachstum ist auch nicht festzustellen.

Politisch mag der Begriff verdorben sein, unter Fachleuten hat sich dagegen ein gemeinsames Verständnis herauskristallisiert. Auf dessen Grundlage hat das Buwal (heute Bafu - Bundesamt für Umwelt) Kriterien erarbeitet, um den Begriff auf Landschaften anzuwenden und die Projekte für «Regionale Naturparks» zu beurteilen. Drei verschiedene Ansätze von Nachhaltigkeit bilden die Ausgangslage:

• Der Ressourcenansatz: Wie wirkt sich die Nutzung auf die Landschaft aus? Um Nachhaltigkeit zu gewährleisten, müssten den verschiedenen Nutzungen Grenzen auferlegt werden - was aber durch Marktkräfte und Preisverzerrungen erschwert wird. Der Ressourcenansatz unterscheidet zwischen primären Nutzungen wie Siedlungen, Produktionsgebieten und Tourismusstandorten einerseits und sekundären Nutzungen wie die geistige und emotionale Bedeutung einer Landschaft anderseits. Um die nachhaltige Nutzung festlegen zu können, muss die Regenerationsfähigkeit bekannt sein. Darüber hinaus verbietet sich dann eigentlich jeder weitere Eingriff. Nutzungsbeschränkungen sollen nicht nur lokale Ökosysteme bewahren. Es muss auch verhindert werden, dass die Schutzmassnahmen am einen Ort nicht mit einer verstärkten Ressourcennutzung anderswo kompensiert werden.

• Der landschaftsästhetische Ansatz: Hier geht es um das mit den Sinnen wahrgenommene Landschaftsbild. Kaum messbare Kategorien wie Vielfalt, Eigenart und Schönheit stehen im Mittelpunkt. Sie sind zeitgebunden und lassen sich daher nicht verallgemeinern. Für eine nachhaltige Entwicklung aber ist wichtig, dass alle Eingriffe diese Aspekte zu berücksichtigen haben - ohne die ästhetischen Vorlieben künftiger Generationen einzuengen.

• Räumliche Identifizierung: Sie betrifft die Wechselwirkung zwischen Landschaft und individueller Entwicklung. Die Landschaft besteht aus zwei Komponenten: Die eine ist die Natur und die andere der menschliche Eingriff. Dies widerspiegelt den Wunsch der Menschen, in einer «natürlichen» Landschaft eingebettet zu sein, sie aber auch verändern zu können. Nachhaltig ist eine Entwicklung dann, wenn das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Bedürfnissen hergestellt ist. Gestützt auf diese Konzepte haben Fachleute ein Raster entwickelt, das 9 Umweltfaktoren mit insgesamt 37 Indikatoren enthält. Damit wollen sie die Nachhaltigkeit im Umgang mit einer Landschaft messen.

Literatur

«Landschaft 2020. Analysen und Trends. Grundlagen zum Leitbild des Bafu für Natur und Landschaft.» Schriftenreihe Umwelt Nr. 352. Bundesamt für Umwelt. Bern 2003. 152 Seiten.