«Die melodielosen Jahre»: Die Züge verkehren planmässig

Nr. 17 –

In seinem neuen Roman erforscht Peter Weber den Übergang von der analogen zur digitalen Gesellschaft und fährt im Rhythmus der elektronischen Musik durch das sich verändernde Europa der neunziger Jahre.

Da ist ein Buch. Aber wir springen hinein, als wär es ein Bad. Tauchen unter und wieder auf im Hauptbahnhof Zürich, steigen in den Zug, rauschen durch Europa und fragen uns, wie der Dichter das ausgehalten hat in all diesen melodielosen Jahren.

Erste Zwischenstation machen wir in Frankfurt, weil wir da in den frühen neunziger Jahren ganz hoffnungsvolle Figuren sind, schauen gut drein und ein bisschen in die Welt, erwandern den «fliessenden Übergang von der Wirtschaft in die Schattenwirtschaft», trinken Kräutertee und hören fliegendes Besteck aus mehreren Küchen.

Alles ist weiblich auf einmal, zuerst die grosse Ankunftssekunde im Frankfurter Hauptbahnhof. Von hier aus kommen wir auf die Welt. Über dem Hafen ein «unendlicher Geräuschhimmel». Alles ist Fluss, flüssig, Europa, und mit dem Schiff Istanbul landen wir übergangslos am Bosporus. Aus dem Hafenlärm hört der Dichter das Signal eines Reiseweckers und erkennt darin das Einläuten des repetitiven Zeitalters.

Von nun an sind die Ohren auf den Sound der neunziger Jahre eingestellt. Die Welt als Polyrhythmus. Wir haben uns inzwischen in jenen Zustand gelesen, in dem die Wirklichkeit durchlässig geworden ist. Kurz bevor sich die Ich-Grenzen auflösen, gibt der Dichter seinem Protagonisten eine Identität.

O. schwebt überm Atlantik, stürzt in die Kindheit und vergegenwärtigt noch einmal die Zeit vor der grossen Melodielosigkeit, die Kopfstimme des Toggenburger Vorjodlers schwingt sich hell auf «durch Himmel und Gestirn».

Meermöwenmetrik

Dann der Tonuswechsel, den der Dichter zunächst in jenem Wechsel des rhythmischen Paradigmas ausmacht, der sich in den achtziger Jahren anbahnte und erst durchsetzte «als Geräte zur Wiederholung verfügbar waren». O. wird zum Erforscher der internationalen Meermöwenmetrik, entfaltet zugfahrend ein «Fensterleben» und lässt den Technobeat der deutschen Hochgeschwindigkeitszüge in seine Feder fliessen.

Wieder in Frankfurt, «dieser grossen Sprachbewegerin», wird der Dichter zum Ethnologen des Literaturbetriebs, erlauscht Zwischentöne aus dem «grossen semantischen Orchester», beobachtet die «grosse Prozession der Geistesarbeiter». Wie konkret Sprache wirken kann, wird ihm bewusst, als er von seinem Schreibtisch durch den Sichtschlitz des Rolladens auf die Strasse blickt: «Die Spaziergänger, die in Flüsterweite am Fenster vorbeigehen, laufen Gefahr, direkt in die Texte zu geraten. In einem unachtsamen Moment, der Rolladen war zu weit offen, befand sich tatsächlich der Kopf eines Mannes auf dem Schreibtisch, halslos. Das Erschrecken war gegenseitig.»

Den Tonuswechsel erkennt er in allen Entwicklungen der neunziger Jahre, durchschaut «internationale Mischwirklichkeit», fortschreitende Künstlichkeit und den Zusammenhang zwischen elektronischer Monotonie und dem Schmelzen der Gletscher. Für all das findet er Sprache. Wieder ist es der Hochgeschwindigkeitszug, der ihn in die notwendige Stimmungslage versetzt. Mit einem improvisierenden Streichquartett rauscht O. durch die ehemalige DDR. Daraus entfaltet sich ein Exkurs durch die moderne Musikgeschichte. Rückblenden in die dröhnenden achtziger Jahre, in deren Kumulus frei improvisierte Musik Quelle der Inspiration war, bringen den rasenden Dichter zur Erkenntnis: «Als der Eiserne Vorhang gefallen war, die Spannungspole aufgehoben, tauchte im luftleeren Raum die repetitive Musik auf.»

O. wittert, dass die repetitive elektronische Musik vor allem eines bewirkt: Vergessen. Damit wird der Dichter zum Chronisten eines Bewusstseinswandels, der einsetzt im voralpinen Toggenburg, wo sich O. als Pilzforscher betätigte und bald auch in chemisch erzeugte Ekstase katapultierte. Von da an beginnen die Dinge zu pulsieren.

Jetzt reden die Tiere

Dann kommen die Tiere des 20. Jahrhunderts: der Hund des Lehrers, der sich vor die Wandtafel legt und als lebendig gewordener Aufsatzgegenstand durch die Bänke spaziert. Die Katze, die mit dem Schwanz übers Blatt wedelt und Fehler löscht. Und schliesslich in London, in Os «persönlichem Wiederholungsexil», ein sprechendes Polizeipferd, das ihm den Auftrag erteilt: «Think about music, sense and repetition! Follow the drums and the basses!»

In der «Urzelle der weltumspannenden Singsprache der Gegenwart» treibt der Dichter seine musikalischen Studien weiter. Gleichzeitig blickt er durchs Fernrohr in die Schweiz: Im Fokus jener milliardenschwere Mann der chemischen Industrie, «bekannt als Lautsprecher der Sammelpartei der Aussereuropäischen». O. staunt: «Trommler und Paukenspieler entstiegen der Insel, sie gaben nun den Rhythmus vor, einen eindeutigen Rhythmus: Wer zuerst ist, bleibt Erster. Bumm. Bumm. Wirbelwumm. Wer zahlt, gestaltet.» Und kommt zum Schluss: «Halbwahres muss so lange wiederholt werden, bis sich die wahre Hälfte verfestigt und sich die falsche verflüchtigt hat.»

In der neuen Hauptstadt Berlin konstatiert er den allgemeinen Popbefehl («Eine Popkornmaschine stand im Turmkopf beim Souvenirladen, wer wollte, konnte seinen Kopf in das Druckluftbehältnis stecken»), im nächtlichen Warschau begegnet er zwei Kosmonauten auf Spazierwache, in Görlitz gerät er in die aussereuropäische Zone, und im «erleuchteten Viertel» verfolgen ihn Plakate für sofortlöslichen Kaffee eines Schweizer Weltkonzerns. Wieder ist es eine Katze, die ihm ein Geheimnis lüftet: «In der Mitte der Alpen sitzt eine kanadische Regenbogenforelle. Sie überwacht die Wasserqualität der Flüsse.»

Aus der Schweiz, dem Land mit der «Quelle, aus der alle europäischen Flüsse entspringen», ist der Dichter losgerattert. Hier fährt er wieder ein, in die Halle des Zürcher Hauptbahnhofs, wo sich wie nirgendwo «der elementare Wechsel von der prärepetitiven Staulage in die schlanke digitale Gegenwart nachzeichnen lässt». Der Dichter erinnert sich an die späten achtziger Jahre: «Schon lag der Lärm der Kompressoren in der Luft, und unterirdisch wurde gewühlt. Gleichzeitig wurde der Stundentakt eingeführt. Die so erwirkte Verflüssigung der Abläufe war körperlich, diese Stunden haben seine Tage strukturiert.»

Zwanzig Jahre später liebt und denkt die Schweiz längst im Halb- und bald im Viertelstundentakt. 2007, als «Die melodielosen Jahre» veröffentlicht werden, dauert die Zugfahrt Zürich-Paris gerade noch vier Stunden. Jetzt sind wir definitiv im digitalen Zeitalter angekommen. Wir steigen aus, als wär es ein Bad. Mit verwandeltem Blick und erweitertem Gehör. Noch schmelzen die Gletscher im Halbstundentakt. Die Züge verkehren planmässig.

Peter Weber: Die melodielosen Jahre. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2007. 191 Seiten. Fr. 29.70