«Konkurrenzierende Deutungen des Sozialen»: Das gekaufte Wundermittel

Nr. 36 –

Politologen, Historikerinnen und andere Sozialwissenschaftler untersuchen, wie Gesellschaften funktionieren. Wie sie selber sich mit dem ökonomischen Primat in der Politik arrangiert haben, zeigt eine Studie.

Manchmal kann auch eine vorsichtig formulierte Kritik vernichtend ausfallen. Der Politikwissenschaft in der Schweiz sei es gelungen, «einen spezifischen Jargon zu entwickeln, der den Eindruck von wissenschaftlicher Kompetenz vermittelte», schreibt beispielsweise Hans-Ulrich Jost, emeritierter Geschichtsprofessor, zum Triumph der Politologie. Deren «Erfolg beruhte nicht zuletzt auf den zahlreichen 'staats- und politiknahen' Studien wie etwa dem Projekt von Ulrich Klöti, Hanspeter Kriesi und Wolf Linder über das Wahlverhalten. Der Nationalfonds investierte hier über eine Million Franken. (...) Ob dabei wissenschaftliche Erkenntnisinteressen immer optimal verfolgt werden können, ist eine andere Frage.»

Sorgfältig recherchiert

Das Zitat stammt aus dem Buch «Konkurrenzierende Deutungen des Sozialen», das Jost mit Claudia Honegger, Susanne Burren und Pascal Jurt geschrieben hat. Es beschäftigt sich, so der Untertitel, mit «Geschichts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft». Das tönt ziemlich nüchtern. Und auch wenn den AutorInnen durchaus bewusst ist, dass sie «Teil des Feldes» und damit keineswegs objektiv sind: Die Studie ist sorgfältig recherchiert, die Thesen zur Entwicklung der Sozialwissenschaften werden genaustens belegt. Dafür wurde unter anderem eine umfassende Datenbank mit Titeln der Vorlesungen und Seminarien sowie der Artikel in den wichtigsten Fachzeitschriften für die Zeit von 1943 bis 2000 aufgebaut.

Jost, der auch regelmässig in der WOZ schreibt, beginnt seinen Beitrag im 19. Jahrhundert, konzentriert sich dann aber auf die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg. Er fragt, «inwiefern die Sozialwissenschaften in der Schweiz noch immer als Staatswissenschaften angesehen werden müssen» - das waren sie nämlich schon im 18. Jahrhundert gewesen, als sie «Legitimationsdiskurse für die Herrschaftsausübung» lieferten.

Und schon bald nach Kriegsende 1945 hatte der Bund begonnen, seinen Einfluss auf die Wissenschaften in Form von Subventionen «in ganz erheblichem Masse» zu verstärken. Gleichzeitig habe, so Jost, auch eine «wichtige Weichenstellung zugunsten der exakten und technischen Wissenschaften» stattgefunden. Soziologen und Politologinnen hingegen wurde eine Nähe zu marxistischen Ideen unterstellt. Immerhin verlangte 1973 der Wissenschaftsrat als Reaktion auf den gesellschaftspolitischen Umbruch nach 1968 ein spezifisches Förderungsprogramm für die Sozialwissenschaften - allerdings mit der Massgabe, diese «besonders zu betreuen, um sie vor ideologischen Verirrungen zu bewahren».

Insbesondere die Politikwissenschaft wollte der Wissenschaftsrat damals unterstützen, da zwar «für die wirtschaftlichen Probleme des Landes Lösungen zum grössten Teil vorhanden» seien, «diese aber an den politischen Entscheidungsstrukturen scheiterten». Dazu Jost: «Die Politologie wird hier schon implizit als Wundermittel angepriesen, um eine ineffiziente Politik in den Griff zu bekommen.»

Was zählt, sind Zahlen

Für die siebziger und achtziger Jahren stellt Jost eine «Rechtswende» fest: «Weniger Staat - mehr Freiheit», lautete die FDP-Parole für die Nationalratswahlen 1979. Neoliberale Konzepte begannen, Politik und Wissenschaft zu beeinflussen, wenn nicht zu bestimmen. Das traf auch die Sozialwissenschaften, die seither finanziell knapp gehalten werden und sich bürokratischen Reformen unterziehen mussten. «Der Bund scheint auch eine Kunst entwickelt zu haben, mehr zu befehlen, ohne mehr zu bezahlen», schrieb seinerzeit die NZZ. Die Dominanz der ökonomischen Perspektive in Gesellschaft und Politik schmälerte das Ansehen jener Sozialwissenschaften, die vorwiegend mit qualitativen Methoden arbeiten; was zählt, sind Zahlen - doch die können und wollen nicht alle liefern.

Während später HistorikerInnen mit kritischen Fragen zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg bei PolitikerInnen und Behörden für Unmut sorgten, reagierten Politologen und WirtschaftswissenschaftlerInnen positiv auf die gesellschaftspolitischen Entwicklungen - in der Hoffnung, damit «ihre Aura der gesellschaftlichen und politischen Nützlichkeit stärken» zu können - was ja auch gelang.

Jost nennt drei Beispiele. Er zitiert den Ökonomen Silvio Borner, der 1978 eine Tagung zum Thema «Effizienz im öffentlichen Sektor» wie folgt zusammenfasste: «Die ökonomische Steuerung der Nicht-Markt-Sektoren in unserer Gesellschaft ist zu einem ganz aktuellen und zugleich grundsätzlichen Problem unserer Wirtschaft herangewachsen.» Dazu gehört auch die Bildung, die immer stärker betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien unterworfen wird.

Zweites Beispiel: Im Forschungsbericht des Nationalfonds von 1980 steht, dass «Behörden und andere Träger der öffentlichen Meinung von den Sozialwissenschaften in immer stärkerem Masse Lösungen für Probleme von Staat und Gesellschaft» erwarten. Diese Forderung löste die Politologie etwa mit den neuen VOX-Abstimmungsanalysen ein.

Und als 1980 in Zürich ein Politologielehrstuhl zu besetzen war, setzte sich Ulrich Klöti gegen einen starken Mitbewerber durch, weil er über wertvolle Kenntnisse der schweizerischen politischen Praxis verfügt und der Bundesverwaltung nahe gestanden haben soll. «Dieses Berufungsverfahren ist beispielhaft für die sich anbahnende Konvergenz der Interessen von politischer Wissenschaft und helvetischer Politik», schreibt Jost.

Nützliche DienerInnen?

Sozialwissenschaften als Staatswissenschaften? Das gilt zumindest für die Politologie, die - so Jost - in den letzten zwanzig Jahren auf Kosten der Rechtswissenschaft den Platz einer Beraterin von Staat und Politik übernahm - und sich damit auch etabliert hat.

Im zweiten Teil des Buchs sind unter dem Titel «Die Ökonomisierung des Sozialen» zwei Fallanalysen zu finden. Die erste zur Volkswirtschaftslehre stammt von Pascal Jurt, der zwar sehr fleissig Daten, Fakten und Namen zusammengetragen hat, der Interpretation dieser Fülle aber nicht ganz gewachsen ist. Interessanter ist Susanne Burrens Beitrag zur Betriebswirtschaftslehre. Ähnlich wie den Politologinnen gelang es auch den Betriebswirten, der Politik ihre Nützlichkeit zu beweisen: Sie wissen zum Beispiel, wie eine öffentliche Verwaltung effizienter organisiert werden kann; ohne sie wäre das New Public Management, das privatwirtschaftliche Leitkonzepte mitsamt den entsprechenden Werten in den öffentlichen Bereich überträgt, nicht zu verwirklichen.

Sind die Politologie und die Betriebswirtschaftslehre also nützliche Dienerinnen von Politik und Gesellschaft? Und befinden sich die autonomeren Sozialwissenschaften auf dem Abstellgleis? Vielleicht ist die Aufregung umsonst: Ganz am Schluss mutmassen Honegger und Jost, ob nicht sowieso bald der Biologie als neuer Leitwissenschaft die Aufgabe zukomme, alle sozialen Fragen mit genetischer Klarheit zu beantworten.

Claudia Honegger, Susanne Burren und Hans Ulrich Jost: Konkurrierende Deutungen des Sozialen. Geschichts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft. Chronos Verlag. Zürich 2007. 413 Seiten. 48 Franken