Durch den Monat mit Michel Seiler (Teil 4): Pingpong am Hang?

Nr. 39 –

Michel Seiler: «Ich war gerne im Gesamtwerk zu Hause.»

WOZ: Ihre Eltern waren Kommunisten. Sie mussten sogar ins Gefängnis, weil sie an einem kommunistischen Zeltlager teilgenommen hatten.
Michel Seiler: Ja. Meine Mutter war in Estavayer in der Gärtnerinnenlehre, und über die jüdischen Mädchen in ihrer Ausbildung bekam sie mit, was in Deutschland los war. Da wurde sie, als Bauerntochter, gegen die Faschisten kommunistisch. In dieser Bewegung lernte sie auch ihren späteren Mann Robert Seiler kennen. Darüber gibt es einen Film und ein Buch. *

Warum haben sich Ihre Eltern vom Kommunismus abgewendet?
Als sie gemerkt haben, was Stalin alles anrichtete, haben meine Eltern opponiert. Sie wurden sofort ausgeschlossen aus der kommunistischen Partei. Sie suchten Ideale, die zur Freiheit führten. Beispielsweise gemeinsam zu arbeiten und in allen Bereichen, auch in Geldfragen, gemeinsam und eigenständig zu entscheiden.

Das Ideal vom Einheitslohn haben Sie im Heim auf der Stärenegg verwirklicht.
Ja, aber wir lassen uns von keiner Gewerkschaft und von keinem Amt diktieren, wie viel wir arbeiten dürfen oder wie viel Lohn wir uns bezahlen möchten. Das ist unsere Sache.

Wie wird denn entschieden?
Wir haben eine Gesamtmitarbeiterkonferenz, einen Verein und eine Stiftung. In diesen drei Gremien werden die Entscheidungen getroffen. Es gibt keine externe Kommission und keine Gewaltentrennung; es sind Leute von innen, die entscheiden. Die Menschen, die schon lange hier sind und mittragen, haben am meisten zu sagen.

Sie sind unter Heimkindern aufgewachsen. Wie war das?
Meine Eltern, die Gründer der Heimschule Schlössli Ins, hatten grosses Vertrauen zu uns Kindern und Jugendlichen. Tagelang erkundete ich mit Freunden das grosse Moos, die Wälder, Äcker, Wiesen und Gräben, schaute dem Bauern zu, den Torfstechern, den Mausern, den Strafgefangenen aus Witzwil. Das war meine Lebensschule, so konnte ich meine Schatztruhe fürs Leben füllen.

Wollten Sie nie ausbrechen aus diesem Leben, das Sie ja von klein auf kennen? Wollten Sie nie weg?
Nein, ich war immer gerne in diesem Gesamtwerk zu Hause.

Haben Sie auch andere Leidenschaften?
Als Mitarbeiter eines selbstverwalteten Heims kann ich meine Leidenschaften im Alltag einbringen und leben. Zum Beispiel konnte ich in einem Zeitraum von zwanzig Jahren einen Kindheitstraum realisieren – einen Gewölbebau im Berg.

Ihre Kinder sind ja auch im Heim aufgewachsen. Was sind sie heute?
Eine Tochter ist Bäuerin, die andere Musikpädagogin und Musikerin, und die Söhne sind Bauer und Zimmermann.

Haben Sie Pläne, was Sie im Nationalrat gerne tun würden? Ein politisches Programm?
Ja, ich habe ein buntes politisches Leitbild entworfen, es findet sich auf meiner Website. Ich möchte gerne bewirken, dass mehr Freiraum für Kreativität entsteht, Nachhaltigkeit und echte Solidarität mit den Armen. Ich möchte mich nicht am Pingpongspiel der linken und rechten Hangparteien beteiligen. Da entsteht zu viel Abfall, der unten im Tal liegen bleibt. Angst, Gewalt, Vandalismus, Umweltzerstörung können nicht links, rechts, vorne, hinten, oben, unten stehend behoben werden. Diese Probleme können nur selbstverantwortet angepackt werden. Einer für alle statt alle für einen. Als einer, der in einer Randregion lebt, bin ich es gewohnt, immer wieder an die Grenze zu gehen. So entstehen mehr Weite und Freiraum. Das möchte ich auch im Nationalrat einbringen.

Diese Weite wenden Sie auch in der Jugendarbeit an. Sie machen mit Ihren Heimkindern lange Wanderungen.
Wir sind bis nach Kroatien gelaufen, innerhalb von sechs Jahren, immer zwei Wochen lang etwa 200 Kilometer. Die Jugendlichen sagen später, das sei etwas vom Besten, das sie erlebt hätten. Man kommt immer wieder in Tiefs, auch die Erwachsenen. Es ist 
ein Miteinander. Das gibt Kraft fürs Leben.

* Karoline Arn und Martina Rieder. «Müetis Kapital». Dschoint Ventschr, 2006.
Karoline Arn. «Wenn wir uns gut sind». Limmat Verlag. Zürich 2007. 240 Seiten. 38 Franken.
Michel Seiler (58) leitet im Emmental den Berghof Stärenegg, ein Heim für Kinder aus schwierigen Verhältnissen. Er ist Grüner, Gemeindepräsident von Trubschachen und kandidiert für den Nationalrat.

www.facebook.com/pages/Michel-Seiler/245634012148993

Siehe auch die Reportage vom Berghof Stärenegg aus WOZ Nr. 15/14