Durch den Monat mit Michel Seiler (Teil 1): Zu anspruchsvoll?

Nr. 36 –

Michel Seiler: «Wir sind keine Reparaturanstalt.»

WOZ: Jugendgewalt ist ein Wahlkampfthema. Kümmern Sie sich auf der Stärenegg um schwierige Jugendliche?
Michel Seiler: Ja, es sind viele, die aus öffentlichen Einrichtungen zu uns kommen, weil sie dort nicht mehr tragbar sind. Wir können uns nicht zuerst überlegen: War die Handlung des Jugendlichen vom Staat erlaubt? Wir müssen individuelle, dem Kind angepasste Lösungen finden.

Was machen Sie anders?
Wir sind nicht eine Reparaturanstalt, in der die Kinder dieser siechen Welt wieder angepasst werden. Wir versuchen, Jugendliche zur Freiheit zu erziehen, damit sie die Welt später aktiv mitgestalten können. Wir leben, arbeiten und lernen mit diesen Jugendlichen während 24 Stunden, das ganze Jahr.

Und das passiert in den staatlichen Institutionen nicht?
Diese intensive individuelle Betreuung ist in öffentlichen Institutionen, bei einer 42-Stunden-Woche, nicht mehr möglich.

Was ist bei «Ihren» Kindern schief gelaufen?
Wenn ein Kind nicht rechnen oder Deutsch lernt, nicht still sitzen kann und mehr Bewegung braucht als andere, hält man es für nicht bildungsfähig. Man sucht nach Defekten und behandelt es oft mit Medikamenten.

Sind die Schulen zu anspruchsvoll?
Nein, aber zu einseitig. Die Kopfschulfächer sind viel zu früh wichtig. Die handwerklichen und künstlerischen Fächer kommen zu kurz. Talente werden oft nicht erkannt. So wird ein Kind schwierig. Es fühlt sich ungebraucht und sitzt zu Hause oft vor dem Fernseher. Diese Kinder haben immer weniger Mensch zur Verfügung. Das ist die Katastrophe. Da muss die Schule Freiraum haben, um kreativ Gegensteuer zu geben.

Heisst das: Überall Steiner-Schulen, keine Problemkinder mehr?
Nein, ich bin nicht für einen Steiner-Schulen-Einheitsbrei. Wir brauchen Vielfalt in der Bildungslandschaft. Man will ja jetzt die Schule schweizweit harmonisieren und richtet ein riesiges Chaos an. Auf der linken Seite ist nur das gut, was vom Staat her kommt. Aber wenn es Probleme gibt, ist man froh um die freien privaten Initiativen, die auf eigene Verantwortung auch schwierige Kinder aufnehmen. Groteskerweise schicken die Linken ihre eigenen Kinder oft in Steiner- oder Montessori-Schulen.

Nicht nur, wenn sie Probleme haben.
Im Kopf oben siehts halt anders aus als im Herzen. Und das macht mich schon hässig. Auf der anderen Seite habe ich gerade diesen Bericht der SVP gelesen, wie man Jugendkriminalität bekämpfen soll. Lächerlich! Mehr Disziplin ... Disziplin ohne Inhalte. Ich habe noch nie einen SVPler getroffen, der pädagogische Alltagsprobleme gelöst hätte.

Wie würden Sie Ihre Lösungen als Politiker formulieren?
Anstatt der Objekt- eine Subjektfinanzierung. Also: Die Nachfrage statt das Angebot finanzieren, und zwar in allen sozialen und Bildungsangeboten. So können Eltern in eigener Verantwortung entscheiden, welche Schule, welches Heim das richtige ist. So kann die notwendige Bildungsvielfalt entstehen.

Warum wird dieser Vorschlag nicht umgesetzt?
Es ist eine Machtfrage, und es heisst dann immer: «Ja, wer kontrolliert denn das?» Dabei sind die problematischsten Sachen in den letzten zwanzig Jahren nicht in den privaten Institutionen und Kleinheimen passiert.

Was war denn mit dem Skandal um ein privates Schweizer Erziehungsheim in Spanien?
Genau! Da spricht man heute noch davon, dass ein Jugendlicher in einen rostigen Käfig gesperrt wurde. Ich bekomme hier Kinder, die waren drei Monate lang in staatlichen Institutionen eingesperrt und bekamen dazu noch Medikamente, damit sie still sind. Nicht, dass es das nicht braucht, aber man soll dazu stehen. Es kann Skandale geben, doch die Kontrolle, ob ein Kind gut betreut wird, kann nur von unten her, von den Direktbetroffenen geschehen.

War der Spanienfall ein Problem für Sie?
Ein grosses Problem. Die Kinder werden oft nicht mehr dort platziert, wo es am besten für sie wäre, auch im Ausland. Sie kommen vermehrt dorthin, wo alles bereits vorfinanziert ist. Wir fragen uns erst nach der grossen Eskalation: Wo ist der richtige Platz für einen Jugendlichen, ein Kind?

Mit «wir» meinen Sie aber nicht sich selbst, oder?
Nein, ich stelle mich der Verantwortung, auch als Gemeindepräsident. Am Samstagabend kam ein Telefonanruf, es habe 25 Jugendliche auf der Strasse, die rumlärmten und mit zu schnellen Töfflis hin und her rasten. Da bin ich zu diesen Jugendlichen gegangen und habe sie gefragt: «Was wollt ihr? Organisiert euch und sagt, was ihr wollt!» Das muss man konkret anschauen, es ist nicht einfach, aber es gibt auch keine schnellen Lösungen. Man muss Raum schaffen, damit die Jungen selbst anpacken können.

Michel Seiler (58) leitet im Emmental den Berghof Stärenegg, ein Heim für Kinder aus schwierigen Verhältnissen. Er ist Grüner, Gemeindepräsident von Trubschachen und kandidiert für den Nationalrat.

Siehe auch die Reportage vom Berghof Stärenegg aus WOZ Nr. 15/14.