Durch den Monat mit Irène Schweizer (Teil 1): War Jazz verpönt?

Nr. 14 –

Irène Schweizer: «Unterrichten mochte ich nie. Da wäre ich noch lieber putzen gegangen.»

WOZ: Irène Schweizer, Sie konnten wegen einer Verletzung mehrere Monate nicht auftreten. Was ist passiert?
Irène Schweizer: Ich bin zwei Tage vor Weihnachten auf einer eisigen Stelle ausgerutscht und habe den Arm gebrochen. Es war ein einfacher Bruch, der Knochen wächst von selbst wieder zusammen. Aber es dauert lange. Ich habe schon gemerkt, dass ich nicht mehr zwanzig bin.

War es schwierig, so lange nicht spielen zu dürfen?
Ja, es brauchte viel Geduld, und die ist nicht meine Stärke. Am meisten wurmte mich, dass ich ein Solokonzert in der Zürcher Tonhalle absagen musste. Aber ich habe Glück gehabt: Ich hätte die Hand oder das Handgelenk brechen können, dann hätte die Heilung doppelt so lange gedauert. Jetzt bin ich seit drei Wochen wieder am Üben und hatte bereits ein erstes Konzert mit der Zürcher Bigband Root Down. Das war ein guter Einstieg, weil ich nur drei, vier Stücke spielen musste. Aber vorher habe ich drei Monate nichts verdient.

Bekommen Sie noch keine AHV?
Ich habe sie zurückgestellt. Dadurch bekomme ich dann etwas mehr. Sonst hätte ich nur das Minimum, damit könnte ich nicht einmal die Miete zahlen.

Wann haben Sie angefangen,
Klavier zu spielen?
Mit zwölf. Ich bin in Schaffhausen in einer Beiz aufgewachsen, im «Landhaus». Im Saal übten immer Dixielandbands. Ich hörte diese Musik und hatte wahnsinnig Freude daran. Ich hatte Handorgel gespielt, seit ich acht war, ich musste auf der Schulreise immer spielen – das wurde mir zu blöd. Also setzte ich mich ans Klavier und versuchte nachzuspielen, was ich von diesen Bands gehört hatte. Dann ging ich eine Weile in die Klavierstunde und lernte Noten lesen, aber ich wusste immer: Ich will Jazz spielen. Dixieland, Traditional Jazz, das war die Musik in den fünfziger Jahren. Dann kam Cool Jazz im Stil von Dave Brubeck, Stan Getz, Chet Baker. Das gefiel mir noch besser. Als die Schaffhauser erfuhren, dass ich auch Klavier spiele, fragte mich eine Band, ob ich mitspielen wolle.

Wie alt waren Sie da?
Vierzehn oder fünfzehn.

War Jazz damals noch etwas Verpöntes?
Mancherorts schon, aber nicht in Schaffhausen. Die Stadt war eine Jazzhochburg, es gab sehr viele Bands. Wir spielten dann im «Landhaus»-Saal zum Tanz auf.

Fanden Ihre Eltern gut, dass Sie das machten?
Sie haben so viel gearbeitet, dass sie es gar nicht richtig mitbekamen. Wir sind sehr frei aufgewachsen. Unsere Band konnte dann schon bald am Amateur-Jazzfestival in Zürich auftreten. 1958, da war ich siebzehn.

Waren Sie die einzige Frau?
Ein paar Sängerinnen gab es immer. Aber ich war die einzige Instrumentalistin.

Hat Sie das gestört?
Nein, damals habe ich das noch gar nicht realisiert. Ich verstand mich gut mit den Männern, sie akzeptierten mich. Erst später störte es mich. Wenn ich mit gewissen international bekannten Musikern auf Tournee war, war es sehr anstrengend. Nach dem Gig haben sie als Erstes eine Frau abgezügelt, und dann gingen sie immer saufen – das mochte ich beides nicht, darum war ich sehr einsam. Aber die Musiker damals in den fünfziger Jahren waren noch nicht so. Das waren Amateure, ein Lehrer, ein Optiker, ein Sanitärmonteur. Ich selbst machte eine kaufmännische Ausbildung. Aber ich wusste immer: Ich will nicht im Büro arbeiten, ich will Musik machen.

Konnten Sie davon leben?
Nein. Erst viel später. In den sechziger und siebziger Jahren jobbte ich noch. Damals war es sehr einfach, einen Bürojob zu finden. Man war per Stunde bezahlt, musste keine Überstunden machen, musste sich nicht engagieren. Ich konnte sehr gut Steno, Englisch und Französisch. Ich arbeitete vielleicht drei Monate, dann hatte ich wieder eine Zeit lang frei. Der Job war gut bezahlt, mit der Musik verdiente ich auch noch etwas Geld. Heute haben es Musiker viel schwerer. Die meisten müssen unterrichten. Das mochte ich nie.

Haben Sie es trotzdem gemacht?
Ganz selten habe ich ein paar Privatstunden gegeben. An Schulen nie. Ich bin keine Lehrerin, ich bin selbst Autodidaktin. Da wäre ich noch lieber putzen gegangen. Einmal habe ich am Berner Konservatorium einen Workshop geleitet. Manche Teilnehmer hatten eine klassische Ausbildung. Mit denen habe ich eine Woche lang improvisiert, jeden Tag etwa sieben Stunden. Nachher konnte ich nicht mehr spielen. Ich hatte das Gefühl, die sind ja alle besser als ich. Ich kann mich nicht abgrenzen, ich kann nur ganz mitmachen oder gar nicht. Das mache ich nie mehr!

Irène Schweizer, 66, ist Jazzpianistin und lebt seit dreissig Jahren im Zürcher Kreis 4.