Durch den Monat mit David Winizki (Teil 1): Ist die Lobby so stark?

Nr. 19 –

David Winizki: «Es geht nicht nur darum, dass der Gesundheitsartikel abgelehnt wird, sondern vor allem darum, wie hoch das passiert.»

WOZ: Was ist eigentlich das Problem beim Verfassungsartikel zur Gesundheitsversorgung, über den wir am 1.  Juni [2008] abstimmen?
David Winizki: Er ist eine Reaktion auf die SVP-Initiative für tiefere Krankenkassenprämien, die sogar den Bürgerlichen derart chancenlos erschien, dass sie im letzten Moment einen Gegenvorschlag präsentierten. Vor allem der Grundgedanke des SVP-Vorschlags kommt darin vor: mehr Wettbewerb. Der Artikel wurde relativ rasch – und auch schludrig – formuliert.

Was sind seine Schwerpunkte?
Der eine ist die Aufhebung des Vertragszwangs. Damit würde es den Krankenkassen ermöglicht zu bestimmen, welchen Ärzten sie die Rechnungen bezahlen und welchen nicht.

Und dasselbe würden sie bei den Spitälern tun ...
Ja, im weitesten Sinn, weil die «monistische Finanzierung» eingeführt würde: Bis heute finanzieren die Kantone über die Hälfte der Spitäler. Gemäss dieser Vorlage sollen die Kantone die Gelder nicht mehr direkt zahlen, sondern den Krankenkassen überweisen. Diese können dann in ein Spital investieren oder nicht. Sie hätten quasi die Verfügungsgewalt über das stationäre Gesundheitswesen.

Das heisst, die Kassen wären die Besitzerinnen der Spitäler?
Zumindest die Entscheidungsträgerinnen. Das ist extrem undemokratisch, Kantone sind immerhin demokratischen Kontrollen unterstellt. Krankenkassen hingegen haben null demokratische Legitimation. Und wie demokratisch sie sind, kann man auch daran sehen, wie sie mit Prämiengeldern die Gesundheits- und Einheitskasseninitiativen bekämpft haben.

In diese Kampagnen wurden massiv Gelder gesteckt ...
... und die Versicherten konnten darüber nicht mitbestimmen! Sie konnten es auch nicht stoppen. Und trotzdem funktionieren die Kassen letztendlich wie eine Abteilung des Bundes, weil die Versicherung obligatorisch ist – wie Steuern.

Ist die Lobby der Krankenkassen so stark?
Mit einem Dutzend Kassen-Verwaltungsräten sind sie im Parlament und in Kommissionen völlig übervertreten. Bisher hatten sie immer den Vorteil, mit ihrer Propagandawalze gegen Initiativen ankämpfen zu können – also gegen ein Instrument, das bei Abstimmungen oft von vornherein scheitert.

Diesmal könnte das ihr Pech sein.
Es wäre eine Sensation, wenn dieser neue Artikel durchkäme. Aber es geht nicht nur darum, dass er abgelehnt wird, sondern vor allem darum, wie hoch das passiert.

Weshalb ist das wichtig?
Wenn er knapp abgelehnt wird, können die Kassen bei der Revision des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung die gleichen Vorschläge wieder bringen und auf eine Mehrheit hoffen.

In der Vorlage kommt das Wort «Vertragsfreiheit» vor. Tönt eigentlich positiv.
Aber «Freiheit» gilt dabei nur für die Krankenkassen. Es bedeutet, dass die Kassen den Ärzten ihre Rechnungen einfach zurückschicken können. Obwohl – das passiert heute schon.

Weil Ärztinnen und Ärzte zu viel verrechnen?
Manchmal. Viel häufiger allerdings, weil Patienten ihre Prämien nicht bezahlt haben. Davon sind ungefähr 150 000 Menschen betroffen.

Was passiert mit ihnen?
Auch mit einem Rezept bekommen sie keine Medikamente mehr. Das kann Folgen haben. Ein depressiver Mensch ohne Antidepressiva könnte einen Suizid versuchen. Oder ein Diabetiker muss ohne Insulin ins Spital.

Das passiert heute schon?
Selbstverständlich. Ich hatte einen Patienten, der von einer Apotheke in die andere musste, bis er schliesslich eine fand, die seine Krankenkassenkarte nicht in den Kontrollschlitz hielt.

Sie engagieren sich in der Vereinigung Unabhängiger Ärzte VUA. Am 1.  Mai verteilten viele sehr junge Mitglieder deren Flyer.
Ja, das ist ein Riesenaufsteller. Das waren junge Medizinstudenten, die das Gesundheitswesen so kritisch anschauen und sich einmischen wollen, wie wir das seit dreissig Jahren tun. Mit uns wollen sie versuchen, ein soziales Gesundheitswesen zu erreichen, das einen menschenwürdigen Zugang zu Gesundheitsleistungen ermöglicht.

War die VUA altersschwach?
Eher «altersstark»! Wir sind tatsächlich eher ältere Semester. Es ist schwieriger, heute bei den jungen Studenten und Assistenzärzten Mitglieder zu finden. Aber das ist ein gesellschaftlicher Trend, der nicht nur das Gesundheitswesen betrifft.

David Winizki (60) ist Hausarzt in Zürich und beratender Arzt bei Meditrina, einer Hilfsorganisation von Médecins Sans Frontières, die Sans-Papiers kostenlos medizinisch berät und behandelt. Er ist Vorstandsmitglied der Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich Spaz.