Nakba: Gottes leere Versprechen

Nr. 19 –

Eine geschichtliche Tragödie für die einen, ein Tag der Freude für die anderen - die Gründung des Staates Israel prägt bis heute den Konflikt im Nahen Osten. Doch seine eigentlichen Wurzeln liegen in den europäischen Ideologien der Moderne.

Israel feiert dem jüdischen Kalender entsprechend diese Woche seinen Unabhängigkeitstag. Doch jede Geste der Freude, jede Kranzniederlegung wird die PalästinenserInnen an ihr Leiden erinnern: Für sie bedeutet der israelische Unabhängigkeitstag die «Nakba», die palästinensische Katastrophe: Infolge der israelischen Staatsgründung wurden Hunderttausende von PalästinenserInnen aus ihrem Land vertrieben.

So wichtig die Geschichte sein mag [vgl. die dieser WOZ beiliegende Ausgabe von «Le Monde diplomatique»], sie bietet keine Lösung der heutigen Probleme. Mehr noch: Vergangenes kann nicht wieder hergestellt werden. Denn beide Seiten, die Israelis wie die PalästinenserInnen, erheben Anspruch auf das gleiche Land. Beide argumentieren, sie hätten Tausende von Jahren dort gelebt - beide glauben, ihr Gott habe ihnen das Heilige Land versprochen.

Im Exil

Doch die Geschichte kann dazu dienen, die Gegenwart besser zu verstehen. Und es ist möglich, die Lektionen der Vergangenheit zu nutzen, um eine bessere Zukunft zu schaffen - eine friedliche Zukunft. Die Zerstörung des zweiten Tempels auf dem Tempelberg durch die Römer im Jahre 70 unserer Zeitrechnung brachte einen Prozess in Gang, den viele JüdInnen als aufgezwungenes Exil betrachten. In den darauffolgenden Jahrhunderten wurde die Religion zur Grundlage des jüdischen Zusammenhalts. Die religiösen Führungen der verschiedenen Diaspora-Gemeinschaften entwickelten Überlebensstrategien. Man versuchte, sich der Gesellschaft anzupassen, und suchte den Dialog mit den jeweiligen Regimes. Diese Strategien waren sowohl den Regierungen, unter denen die JüdInnen lebten, wie auch den JüdInnen selbst dienlich - insbesondere ihren AnführerInnen, die dadurch eine gewisse Autonomie erhielten und sich die Herrschaft über ihre Gemeinschaften sichern konnten. Dies wurde durch das geläufige Bild ihres Gottes erleichtert: Dieser war selbst in der Lage, das eigene Volk zu bestrafen, falls dieses vom richtigen Weg abkam.

Das Exil war damals noch nicht das Problem, zu dem es später von den ZionistInnen erklärt wurde. Das Exil war ein Ausdruck von Gottes Willen. Und was sollte unternommen werden, um die Rückkehr nach Zion, ins gelobte Land, herbeizuführen? Einerseits nichts, anderseits alles: Alle Versuche, die Situation der JüdInnen zu verbessern, waren zu unterlassen. Stattdessen sollte alles Mögliche getan werden, um die religiösen Regeln zu befolgen - in jedem Bereich des täglichen Lebens. Nur so könne die Rückkehr ins gelobte Land beschleunigt werden, die, so die herrschende Meinung, allein in Gottes Händen war.

Die Geburt des Zionismus

Der Zionismus tauchte erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf - damals erst von einer kleinen Minderheit vertreten. Die ZionistInnen propagierten die Vereinigung der jüdischen Identität innerhalb eines nationalen Rahmens - durch die territoriale Konzentration des jüdischen Volkes. Der passiven Haltung der jüdischen Orthodoxie stellten die ZionistInnen das Konzept der JüdInnen als aktives Subjekt entgegen, das seine eigene Geschichte schreibt. Nur so könne dem Antisemitismus entgegengetreten werden.

Die Entstehung des zionistischen Projekts ist nur vor dem Hintergrund mehrerer historischer Entwicklungen zu verstehen. Zum einen standen die JüdInnen im 19. Jahrhundert vor einem nicht enden wollenden Antisemitismus. Die rechtliche Gleichstellung war noch immer nicht erreicht, noch immer wurden die JüdInnen nicht als ebenbürtige BürgerInnen betrachtet - auch wenn neue Gesetze bessere Bedingungen versprachen. Die JüdInnen stellten fest, dass die Frage der Gleichstellung nicht eine rein rechtliche war, wie viele von ihnen bisher geglaubt hatten - die «jüdische Frage» blieb weiterhin bestehen. Zum anderen entwickelten sich in den jüdischen Gemeinschaften, besonders in Osteuropa, nationale Gefühle. Die Urbanisierung war unter JüdInnen besonders ausgeprägt; ihre Migration in die Städte trug zudem dazu bei, dass viele von ihnen stark von modernen philosophischen und politischen Ideen beeinflusst wurden. Mit Ausnahme der Ultra-Orthodoxen, die sich vor jeglichem Wandel fürchteten, schauten die JüdInnen mit Begeisterung auf die französische Revolution - für sie ein mit dem Exodus aus Ägypten vergleichbares Ereignis.

Europäische Wurzeln des Konflikts

Die vorherrschenden Ideologien der letzten beiden Jahrhunderte, namentlich der Nationalismus, der Sozialismus und der Liberalismus, drückten der zionistischen Ideologie ihren Stempel auf. Auch wenn die zionistische Forderung für «alle Juden überall» galt, so war doch klar, dass der Geist dieses zionistischen Aufrufs europäisch geprägt war und den JüdInnen ausserhalb der westlichen Zivilisation keine wirkliche Bedeutung zukam. In den europäischen ideologischen Wurzeln liegt eine der wichtigsten Ursachen für den heutigen palästinensisch-israelischen Konflikt: Der Zionismus ist primär ein nationalistisches Projekt; er verfolgt seit je die Vereinigung der jüdischen Identität auf einem nationalen Territorium. Das Ziel, so die führenden Zionisten, war, ein «Volk ohne Land zu einem Land ohne Volk» zu führen. Nur war Palästina kein Land ohne Volk.

Das zionistische Bild der «anderen», der PalästinenserInnen, denen sie in Palästina begegneten und die bereits seit Hunderten von Jahren dort lebten, war ein ideologisches Konstrukt. Die palästinensische Bevölkerung wurde in vorgefertigte Theorien gezwängt, die lediglich der Rechtfertigung der eigenen Herrschaft dienten: Die «Eingeborenen» wurden nicht als eigenständiges freies Subjekt definiert. Die «echten Partner» waren in den Augen der Zionisten und später der führenden PolitikerInnen die Grossmächte, die imstande waren, den PalästinenserInnen und den arabischen Staaten ihr Diktat aufzuzwingen - Staaten, mit denen man gemeinsame Interessen teilte und Allianzen schmieden konnte, um die eigenen Interessen voranzutreiben.

Die Abwesenheit des «anderen» in der zionistischen Geschichtsschreibung ist nicht auf einen Fehler der HistorikerInnen zurückzuführen - sondern auf ein Problem, das allen europäischen Ideologien eigen ist: Der palästinensische Literaturtheoretiker Edward Said schrieb, dass der «Hauptaspekt der europäischen Kultur» genau jener sei, welcher «der Kultur inner- und ausserhalb Europas zur Hegemonie verholfen hat: die Idee der europäischen Identität als eine den nicht-europäischen Kulturen und Völkern überlegene Identität». Der Zionismus wurzelt in der europäischen Ideologie der eigenen Überlegenheit. Dieser Gedanke liegt jeder Rechtfertigung der Kolonialisierung zugrunde. Er stellt Argumente bereit, die dazu dienen, die Kolonialisierung fortzusetzen und diejenigen zu unterdrücken, die sich gegen sie zur Wehr setzen.

Die Umsetzung der zionistischen Forderungen in die Realität musste unweigerlich zum dramatischen Kampf zwischen JüdInnen und PalästinenserInnen um das «heilige Land» führen. Die PalästinenserInnen waren ein Hindernis für die israelischen Kolonialbestrebungen. Doch auch sie hatten im 19. und 20. Jahrhundert damit begonnen, ihre eigene kollektive Identität zu entwickeln. Der grundlegende Charakter des Konflikts war bereits vor dem ersten Weltkrieg ersichtlich - zu einer Zeit, als der Kampf um das heilige Land begann.

Noch mehr Zorn und Gewalt

Mit der israelischen Unabhängigkeit von 1948 war das zionistische Projekt endlich in greifbare Nähe gerückt. Der grausame Schatten des Holocausts und der kurzfristige Gleichklang sowjetischer und US-amerikanischer Interessen, welche die britische Vorherrschaft im Nahen Osten brechen wollten, hatten den Weg zur Gründung des jüdischen Staates frei gemacht.

Vor diesem Hintergrund wollten die Mehrheit der EuropäerInnen und Israelis sowie die meisten AraberInnen die tragische Bedeutung dieser historischen Ereignisse für die PalästinenserInnen nicht wahrhaben. Selbst von den Opfern, die vertrieben wurden oder im neuen israelischen Staat blieben, wurden diese später als Katastrophe bezeichneten Ereignisse anfänglich nicht richtig verstanden.

Beide Seiten können auf die Geschichte zurückgreifen, um ihre «historischen Rechte» geltend zu machen. Doch genau dies führt zu noch mehr Zorn und noch mehr Gewalt. Bis zum heutigen Tag berufen sich die FundamentalistInnen auf beiden Seiten auf ihre historischen Ansprüche - und sie wissen, wie sich diese historischen Rechte durch die Versprechen ihrer Götter begründen lassen.

Es gibt nur einen Ausweg: die Bereitschaft, sich auf den «anderen» einzulassen und ihn zu verstehen versuchen. Nur so kann die Basis für die Konstruktion einer neuen Realität gelegt werden. Ohne ein Verständnis für die Bedeutung der Unabhängigkeit für die einen und der Nakba für die anderen gibt es wenig Hoffnung auf einen Frieden.