«Das Karibische Testament»: Land ohne Menschen. Menschen ohne Land
Marco Schwartz erzählt die Chronik eines kolumbianischen Armenviertels als umgekehrte Heilsgeschichte.
Der Kolumbianer Marco Schwartz lebt seit über zwanzig Jahren in Madrid. Seine journalistische Laufbahn begann er bei der Tageszeitung «El Heraldo de Barranquilla», die wegen ihrer Glanzzeit Anfang der fünfziger Jahre dank Kolumnisten wie Alfonso Fuenmayor, Álvaro Cepeda Samudio und Gabriel García Márquez einen legendären Ruf besitzt.
Schwartz widmete sich der Berichterstattung über die politischen Intrigen in der Stadt an der Karibikküste, was ihn allmählich verdross, sodass er seinem Ressortleiter vorschlug, für die Sonntagsbeilage eine Serie von Reportagen über alle Gemeinden der Provinz zu verfassen. Einmal pro Woche, jeden Donnerstag, sah er sich zu diesem Zweck in den umliegenden Dörfern und Siedlungen um, schloss Bekanntschaft mit den Menschen dort, hörte ihnen zu, teilte ihren Alltag. Seine Berichte, unter Zeitdruck verfasst und auf eine halbe Druckseite gepresst, erschienen ihm Jahre später, in Spanien, wie flüchtige Skizzen, Vorarbeiten zu einem ungeschriebenen Werk; erst in der Rückschau und im Wissen um den Fortgang der Geschichten klärte sich für ihn, was seinerzeit, aus der Nähe, verworren gewirkt hatte. Aber schon damals war dem ausgewiesenen Bibelkenner (unlängst ist von Schwartz ein grosser Essay über «El sexo en la Biblia» erschienen) das gewaltige Sprachvermögen der armen Leute aufgefallen. Ihr erhabener Ton hatte ihn einigermassen überrascht.
Litaneien, Machenschaften
Der Roman «Das Karibische Testament» ist von dieser doppelten Erfahrung geprägt. Sein Autor beschreibt die Entstehung einer Siedlerkolonie am Rand einer kolumbianischen Grossstadt als Schöpfungs- und umgekehrte Heilsgeschichte, von der Zeit, da noch «alles Busch war, grenzenloses Dickicht» bis zur unmittelbaren Gegenwart, in der «Sektenprediger ihre Litaneien singen und das Ende der Welt verkünden». Er wählt die Sprache der Bibel («Vulgata caribe» heisst der Roman im Original) nicht nur als Hommage auf die SlumbewohnerInnen, sondern auch aus ästhetischen wie politischen Erwägungen - um sich abzuheben von der naturalistischen, gar exotisierenden Milieuschilderung, die für gewöhnlich immer dann erfolgt, wenn sich SchriftstellerInnen der gehobenen Stände über Not, Elend und Gewalt der Bedürftigen auslassen. So endet der Roman zwar scheinbar ausweglos, aber nicht ohne Hoffnung: Das letzte Kapitel ist noch nicht geschrieben.
Selten, dass eine für Lateinamerika, ja für alle Länder der sogenannten Dritten Welt prägende Erfahrung wie Landraub und Besitznahme von Land derart anschaulich und in intimer Kenntnis der Machenschaften korrupter Politiker und Geschäftsleute dargestellt wird. Zu rühmen ist auch Schwartz' Fähigkeit, die Chronik der Siedlung Chibolo mit der nationalen Geschichte zu verknüpfen, die bald wie im Zeitraffer, abläuft, dann wieder angehalten wird, wie um das Leben in einem bestimmten Moment betrachten und ergründen zu können.
Überhaupt kümmert sich Schwartz, gemessen an Verfassern herkömmlicher Romane, kaum um die goldenen Regeln des Erzählens. Er verzichtet zum Beispiel auf einen Protagonisten, den die LeserInnen durch das Geschehen begleiten können. Manche Personen tauchen auf, halten sich über mehrere Kapitel, verschwinden, gewinnen aufs Neue Gestalt, ehe sie im Strudel der Ereignisse untergehen. Moisés Cantillo etwa, der die Landbesetzung der Landlosen organisiert und sich aus Not auf Absprachen mit einem Politiker einlässt. Oder der revolutionäre Armenpriester Arregui, in dessen Gegenwart die EinwohnerInnen von Chibolo anfangen, ihrer eigenen Stärke zu vertrauen. Aber dann wird Arregui von einem gedungenen Mörder erschossen, und ohne seinen Beistand zerfällt die Gemeinschaft.
Die eigentlichen Helden des Romans sind also nicht einzelne Menschen, sondern die Mechanismen von Armut, Aufruhr und Resignation, und Marco Schwartz zeigt mit verblüffenden Details, die in der inspirierten, fintenreichen Übersetzung von Jan Weiz gewahrt bleiben, wie in einer kapitalistischen Gesellschaft noch der subversive Akt einer Landbesetzung den Reichtum der Herrschenden mehrt. So ist es kein Wunder, dass die SiedlerInnen immer wieder «in einen Dämmerzustand von Unlust und Gleichgültigkeit» fallen. «Vom Kampf ums Überleben bedrängt, hatten die Bewohner von Chibolo gar keine Zeit, sich in Erinnerungen zu verlieren, und was die Zukunft betraf, bestand ihre einzige Sorge darin, ob sie am nächsten Tag etwas zum Frühstück bekommen würden oder nicht.»
Das Meer der Verbitterung
Vertreibung, Brudermord, Verheissung, Exodus, Verkündung des Messias. Es sind, wie gesagt, biblische Muster, denen Marco Schwartz folgt, ausgehend vom paradoxen Zustand einer Gesellschaft, in der «viel Land ohne Menschen und viele Menschen ohne Land» existieren. In der Politik und Arbeit «zwei Flüsse sind, die beide in das Meer der Verbitterung münden». Und in der Tradition ist, «dass jeder allein mit seinem Missgeschick fertigwerden muss», sodass einer der Landbesetzer, ein junger Mann namens Ulises Tejada, seine Erfahrungen in diesem niederschmetternden Befund zur Sprache bringt: «Du kannst sicher sein: Wenn auf der Welt nur noch ein Mensch übrig bliebe, würde die eine Hälfte seines Körpers versuchen, die andere zu schikanieren.»
Der Roman ist aktuell, von brennender Aktualität sogar. Er ist so sehr politisch, dass es sich der Autor ersparen kann, dezidiert Partei zu ergreifen. Ihm geht es um kollektive Erfahrung, deshalb versucht er erst gar nicht, seine Individuen psychologisch zu begründen: Auch weil der Geschichte, die er mit harten Schnitten versieht, ökonomische und soziologische Befunde angemessener sind als das Wissen um seelische Vorgänge. Einmal reisst Schwartz sie kühn auf, mit einer Paraphrase auf das «Lied der Lieder» Salomos, das bei ihm «Das Lied der Liebe» heisst und als Vermächtnis des ermordeten Padre Arregui ausgegeben wird. Der Liebesakt verschmilzt darin mit der Besetzung brachliegendes Bodens durch landlose Bauern: «Pflanz deinen Papayo in meinen Garten,/ Damit du als alteingesessen gelten kannst./ Wenn jemand versucht, dich zu vertreiben./ Auf meinem Körper bau Hütten aus Ziegeln und aus Mörtel/ Mit deinen geschickten Maurerhänden./ Und mit deinen Liebkosungen reinige mich,/ Damit die ekelhaften Geier und die widerlichen Fliegen/ Sich nicht in meiner Landschaft niederlassen.»
Eintritt in die irdische Hölle
Es spricht für Marco Schwartz, dass sein Roman entgegen aller Erwartung nicht mit dieser Sehnsucht schliesst, sondern mit der Ankunft der «Hallelujas», evangelistischer Seelenfänger aus Nordamerika, die sie pervertieren: «Ausgehend von einer eigenwilligen Interpretation der Bibelverse, erklärten sie, dass das Fehlen eines Wasserversorgungsnetzes in den Kompetenzbereich des Kaisers gehöre, in dem die Bewohner von Chibolo nichts zu suchen hätten, und dass, solange dieses rein dem weltlichen Bereich zugehörige Problem nicht auf administrativer Ebene gelöst werde, die Leute ihre Bemühungen auf eine sparsame und hygienische Verwendung des Wassers konzentrieren sollten, das sie bei den Tankwagen kauften.»
Das letzte Refugium vor dem Ansturm der bleichen Prediger ist der Salsaschuppen La Tres. Aber eines Nachts tritt dessen Besitzer vor die letzten sieben Gäste des Etablissements, beschwatzt sie mit Gottesglauben und Bekehrung und teilt ihnen mit, dass sein Lokal ab sofort «der Apokalyptischen Kirche der letzten Tage» als Hauptquartier dienen werde.
Übervorteilung und Rechtlosigkeit. Stupide Frömmigkeit. Eine Gemeinschaft ohne Gedächtnis und ohne Gedanken an politischen Widerstand. So endet diese karibische Bibel nicht mit der grossen Vision von der Vollendung der Welt, sondern mit dem Eintritt in die irdische, sehr gegenwärtige Hölle. Soll niemand, der den Roman gelesen hat, noch behaupten, ja in Kolumbien, da herrschen demokratische Verhältnisse.
Marco Schwartz: Das Karibische Testament. Roman. Aus dem Spanischen von Jan Weiz. Rotpunktverlag. Zürich 2008. 18 Seiten. 38 Franken