Durch den Monat mit Chantal Michel (Teil 3): Wohin geht die Reise?

Nr. 29 –

WOZ: Vergangenes Jahr haben Sie sich in der Abtei von Bellelay mit dem Künstler Hermann Gerber auseinandergesetzt. Er hat Tausende von Meisterwerken aus allen Epochen kopiert. Wie haben Sie diese Skizzen für Ihre Serie «Die Unwiderruflichen» genutzt?
Chantal Michel: Gerber hat einen starken skizzenhaften Strich mit einem interessanten räumlichen Effekt. Sie wirkten auf mich wie durchsichtige Porträts. Es entstand ein Raum, den ich besetzen wollte. Ich habe dieses Gittergeflecht auf mich gemalt und bin sozusagen reingeschlüpft in seine Skizzen. Ich reagiere sehr körperlich auf Sachen. Es gibt Dinge, die lassen sich schwer beschreiben. Es ist mehr ein Gefühl, eine Empfindung. Die Arbeiten von Bellelay sind in «Schloss Kiesen» die einzigen Arbeiten der Ausstellung, die nicht hier entstanden sind. Sie passen ausgezeichnet in diese Räume.

Ist für Sie ein Fotoapparat oder eine Videokamera wie ein Musikinstrument, mit dem man einen spielerischen Umgang pflegt?
Ich nutze diese Apparate nur, um meine Arbeit zu dokumentieren. Ich sehe den Körper und den Raum als «Spielzeug». Eigentlich ist mein Körper das Material, mit dem ich auf den vorgefundenen Raum reagiere.

Wie kamen Sie dazu?
In meinen Akademiezeiten habe ich ein Buch über den Konzeptkünstler Bruce Nauman gelesen. Ich hatte mich damals nicht besonders stark für andere Künstler interessiert, aber es hat mich fasziniert, wie Nauman mit Krisen umgegangen ist. Er hat Kaffee getrunken und ist im Atelier herumgetigert. Aus dieser Situation heraus hat er ein Video gemacht. Das fand ich sehr ehrlich, wie er auf den Moment reagiert. Nicht lange ein Thema suchen, sondern spontan etwas probieren. Das Machen ist wichtig, der Rest ergibt sich von selbst. Die Nauman-Lektüre hat mich zu meinen ersten Videoarbeiten animiert. Ich habe in meinem Atelier vor kahlen Betonwänden mit meinem Körper experimentiert. Ich hatte mich schon als Kind stark für Tanz interessiert, konnte mich aber vor Publikum nicht ausdrücken. Ich war viel zu scheu. Erst allein und im Dialog mit der Videokamera ging es dann. Für mich ist es heute noch schwierig, in der Gruppe zu arbeiten. Ich war sogar gehemmt, wenn mir jemand beim Abwasch zugeschaut hat. Inzwischen kann ich wenigstens das.

Hätten Sie gerne in einem anderen Jahrhundert gelebt?
Die heutige Zeit mit all dieser Technik passt mir gar nicht, obwohl ich sie ja auch verwende. Allerdings lebe ich ohne Handy und E-Mail und empfinde das als grosse Qualität in meinem Leben. Falls ich telefonieren muss, spaziere ich im gelben Overall in einer Viertelstunde vom Schloss zur Kabine am Bahnhof Kiesen. Die Kabine wird dann zu meinem temporären Büro. Ich glaube deshalb aber nicht, dass mein Leben in einem anderen Jahrhundert einfacher gewesen wäre. Vielleicht würde ich lieber wie ein Tier in einem Wald oder einer Höhle leben, Gras fressen und die Welt beobachten.

Sie träumen gerne von anderen Welten?
Ja. Eigentlich will ich, dass man sich im Schloss Kiesen verzaubern lässt, sich entführen lässt in eine andere Welt, und den Aufwand, den ich betrieben habe, gar nicht mehr bemerkt. Das Atmosphärische hat mir in den Museen immer etwas gefehlt. Da hat man mit den Leuten nichts zu tun, bekommt wenig Feedback, und niemand traut sich etwas zu sagen, weil das Unverständnis und die Angst vor der Kunst zu gross sind. Im Schloss kann ich das spielerisch aufbrechen, und die Besucher geben mir etwas zurück. Ihre Begeisterung ist wunderbar.

An den Wochenenden, wenn die Ausstellung geöffnet ist, werde ich immer da sein, da ich sowieso alles in Betrieb setzen muss. Drei Leute helfen mir bei der Aufsicht, und ich habe mir ein Zimmer eingerichtet, in dem ich an jedem Wochenende ein Bild produziere. Man weiss also, dass ich da irgendwo hinter einer verschlossenen Türe ohne Stress eine normale Arbeit verrichte.

Wohin geht die Reise von Chantal Michel?
Erst will ich mich erholen, ans Meer fahren und erst mal nichts tun. Dann folgen Ausstellungen im In- und Ausland. Im Herbst realisiere ich eine grössere fotografische Arbeit in einer Kunststofffabrik im bayrischen Rehau an der Grenze zur Tschechischen Republik. Dann habe ich etwas Spezielles vor, auf das man sich jetzt schon freuen kann.

Was denn?
Sage ich nicht.

Chantal Michel (40) ist Foto-, Video- und Performancekünstlerin.

www.chantalmichel.ch