Durch den Monat mit Chantal Michel (Teil 1): Wer kommt ins Schloss?
WOZ: Seit wann arbeiten Sie im Schloss Kiesen?
Chantal Michel: Seit Anfang April lebe und arbeite ich in dieser zauberhaften Umgebung zwischen Bern und Thun. Ich wollte nach zehn Jahren Arbeit und dem Erscheinen meiner Werkdokumentation 1997 bis 2007 eine Retrospektive machen. Meine «alten» Arbeiten scheinen mir immer noch gut, und ich produziere sehr viel. Da wollte ich sie einmal gesamthaft präsentieren.
Ich überlegte mir, wo das sein könnte. Ein Schloss schien mir ideal dafür, denn Museen und Galerien haben oft keine Atmosphäre. Dann mag ich die Idee, dass Leute in ein Hotel oder ein Schloss kommen, um meine Arbeiten zu sehen, die vielleicht nie in ein Museum gehen würden. Es sind Leute, die zu viel Respekt, gar Angst vor Museen, Galerien und der Kunst haben und sich nicht reintrauen. Mit meinen Fotos und Videos will ich aber auch das Müeti von nebenan erreichen. Deshalb schrie ich nach einem Schloss.
Irgendjemand hat mich gehört und mir die Telefonnummer von Schloss Kiesen zugesteckt. Ein Schloss bringt eine aussergewöhnliche Grundstimmung mit, und jeder einzelne Raum hat eine eigene Stimmung. Da hätte ich meine verschiedenen Serien zeigen können. Plötzlich ging alles sehr schnell. Ich bin Anfang April in die seit zehn Jahren leer stehenden Räume eingezogen, und die Besitzer haben mir alle Freiheiten gewährt.
Was ist aus der Retrospektive geworden?
Nachdem ich eingezogen bin, habe ich schnell festgestellt, dass ich hier etwas Neues machen will und keine Retrospektive, das ist ja eigentlich eher etwas für ältere Künstler. Es war kalt im Schloss, und das hat mich zuerst blockiert, drei Wochen lang hat nichts funktioniert. Ich war verzweifelt. Erst als ich es mir in einem Zimmer mit einer Heizung und einer kleinen Bühne behaglich machen konnte, ist es vorwärts gegangen. Aus der Abtei von Bellelay, wo ich vergangenes Jahr ausgestellt habe, hatte ich einen alten Koffer mit Kleidern aus dem 18. Jahrhundert, die gut ins Schloss und zu meinen neuen Ideen passten.
Sie arbeiten oft in speziellen Räumlichkeiten wie ausgedienten Luxushotels, alten Brauereien und jetzt in einem leer stehenden Schloss. Welchen Einfluss hat die Geschichte dieser Häuser für Ihre Umsetzungen mit Foto und Video?
Der Einfluss ist gering. Ich lasse mich von den Räumlichkeiten tragen, sauge ihr Ambiente auf und erfinde meine eigenen Geschichten. Der Anfang war schwierig, da keine Möbel mehr im Haus waren und mir ein wenig der Faden fehlte. Irgendwo habe ich gerollte Tapeten gefunden, die für das Bad von einem Herrn Dollfuss gedacht waren. Solch kleine Hinweise interessieren mich mehr als recherchierte Geschichte. Meine Arbeiten haben keinen Bezug zu den Leuten, die früher hier gewohnt haben. Ich habe meine eigenen Träume, und alles ist möglich – wie bei «Alice im Wunderland». Der Raum ist Spiegel meines Wesens.
Sie haben noch vier Tage Zeit bis zur Vernissage von «Schloss Kiesen» am Samstag, sind Sie gestresst?
Ich habe den Aufwand unterschätzt. Es hatte keine Lampen im Haus, die Zimmer waren unmöbliert und kahl, Steckdosen fehlten in vielen der über zwanzig Zimmer, und das Stromnetz ist entsprechend schwach. Aus dem Hotel Schweizerhof in Bern, das seit drei Jahren leer steht und in dem ich 2005 die Serie «Das historische Gedächtnis seiner toten Zeit ist die Zukunft» realisierte, konnte ich Lampen, Teppiche und Mobiliar ausleihen. Seit zwei Tagen hilft mir ein Elektriker bei der Arbeit. Aber von diesem ganzen Aufwand – einer Materialschlacht, wie ich sie noch nie veranstaltet habe – wird man nicht mehr viel merken, wenn am Samstag alles fertig eingerichtet ist. Die Stimmung im Haus, in den verschiedenen Räumen ist stark vom Licht abhängig, deshalb sind die Fenster abgedeckt, das Tageslicht bleibt ausgesperrt. Am Schluss soll ein Gesamtwerk entstehen, bei dem die Räume, die Raumabfolge, die unterschiedlichen Zimmer, das Mobiliar, Teppiche, Fotos und Videos, aber auch die Gerüche wichtig sind und zu einem Ganzen verschmelzen.
Weshalb musste die Ausstellung noch vor den Sommerferien fertig sein?
Das Schloss Kiesen soll während der Ausstellungsdauer zu einem Ausflugsziel werden. Zur Eröffnung mache ich eine Performance, und an je drei Wochenenden gibt es einen Brunch oder ein Abendessen mit Pasta und Wein im Schlossgarten, damit die Besucher gemütlich zusammensitzen können. Ich möchte ihnen ein unvergessliches Erlebnis bieten.
Chantal Michel (40) ist Foto-, Video- und Performancekünstlerin aus Bern.