Alice Munro: Charmante Tausendsassas

Nr. 42 –

In ihrem neuen Erzählband beschäftigt sich die kanadische Autorin mit der eigenen Familiengeschichte. Ohne beherzte Schnitte hätte das ermüdend werden können.


Gäbe es eine literarische Kategorie namens Parallelwerk, liesse sich das neue Buch von Alice Munro dort einreihen. Sie selbst schreibt im Vorwort, neben ihrer literarischen Arbeit habe sie zwölf Jahre lang an diesen Texten gearbeitet und nach einer speziellen Form gesucht.

Am Anfang steht eine Reise. In Schottland ist Munro auf Lebenszeichen der Laidlaws gestossen; so hiessen ihre Eltern, sie stammten beide aus dem hoch gelegenen Ettrick Valley und waren weitläufig verwandt miteinander.

Den frühesten Beleg über ihre Angehörigen findet Munro aus dem beginnenden 17. Jahrhundert. Er handelt von Will Laidlaw, genannt O’Phaup nach seinem kleinen Anwesen. Er war der schnellste Läufer im ganzen Tal. Zudem glaubte er an Geister, was ihn an Feiertagen wie Allerseelen in Verwirrung bringen konnte, besonders wenn er ein bisschen über den Durst getrunken hatte. So war er eben, ein Dorforiginal, und dass auch seine Söhne und Töchter ihre Schrullen hatten, dürfte nicht erstaunen, zumal sie es ohne solche Auffälligkeiten kaum zu Einträgen in die Ortschroniken gebracht hätten.

Es sind Geschichten von charmanten Tausendsassas. Der eine hatte einen Hang zum Übertreiben und im Lokalblatt einen denkwürdigen Schneesturm beschrieben. Eine andere ist verewigt in einem der Bücher des berühmten Walter Scott, der sich fürs heimische Landleben, für alte Lieder und Balladen interessierte. Da war er richtig bei den Laidlaws, sie erzählten sich nachts Schauermären, statt auf ihre Schafe aufzupassen. Das alles sind Anekdoten, wie sie jeder Familiengeschichte gut anstehen. Und wie leider in diesem Genre üblich weidet Munro sich allzu sehr an ihren hübschen Fundstücken. Damit läuft sie Gefahr, in jenen familiären Ton zu verfallen, der Aussenstehende bald einmal ermüdet.

Jenseits der eigenen Erfahrungen

Gut, dass sich nach vierzig Buchseiten die dritte Generation der Laidlaws einem neuen Lebensinhalt zuwendet. Ein Teil der Familie wandert nach Amerika aus, nach Nova Scotia, ein weiterer Teil wird wenige Jahre später nachkommen. Es sind riesige Auswandererschiffe, die meisten nehmen den ganzen Hausrat mit, manche sogar ihre Kühe.

Dieser Strang wäre ohne Fantasie kaum zu erzählen. Zwar führt Walter Laidlaw ein Tagebuch über die Reise, doch Munro muss bei der Überfahrt etwas weiter ausgreifen. Sie erzählt von unterschwelligen Rivalitäten unter den Familienmitgliedern. Oder davon, wie bei einer Gebärenden auf dem Schiff ein Aberglaube auflebt und wie einer der Laidlaws an Deck mit einem Male viel schottischer redet, als er es zu Hause tat; seinen Söhnen übrigens ist das genierlich. Das kann man sich lebhaft vorstellen, die angedeutete Liebesgeschichte zwischen Walter Laidlaw und einer kranken vierzehnjährigen Passagierin aus der Luxuskabine hingegen ist allzu offensichtlich erfunden.

Am spannendsten sind die Auswanderergeschichten, wenn Munro die meisten Details ausspart. Wenn sie, wie wir es von ihr gewohnt sind, anhand einer Szene ein halbes Leben erzählt, mit ihrem unnachahmlichen Können. Diesmal allerdings berichtet sie über weite Strecken von Situationen, die ihr nicht geläufig sind: wie man in der Neuen Welt das Land zugeteilt bekam etwa, wie sehr man auf den Familienverband angewiesen war, wenn es darum ging, ein Blockhaus zu bauen, ein Stück Wildnis urbar zu machen, sich mit fremder Bodenbeschaffenheit auseinanderzusetzen. Möglich, dass Munro dabei auf mündliche Überlieferungen zurückgreifen kann. Doch ein Rundgang über den Friedhof, der Blick auf die Grabsteine der Laidlaws mit Jahreszahlen, die auf Kindsbetttode hindeuten - solche Beobachtungen fahren stärker unter die Haut als die nachgezeichneten Schicksalsschläge in der Erzählung «Illinois». Umso wohltuender deshalb, dass danach die Chronologie aufgeweicht und zwei Generationen übersprungen werden.

Zwangsläufige Ausführlichkeit

Nach dem ersten Drittel, spätestens ab Seite 145, ist es, als würde ein anderes Buch beginnen. Auch wenn uns einiges aus den frühen Erzählbänden bekannt vorkommen will: so etwa die Farm bei Wingham in Ontario mit den Käfigen, wo Silberfüchse gezüchtet werden, die Bösartigkeiten von Schulmädchen, die allgemeine Angst, aus dem Rahmen zu fallen. Und wieder gibt es eine Icherzählerin, die sich für die Extravaganzen ihrer Mutter schämt. Diesmal aber, in der Familiengeschichte, steht die Erzählerin näher bei der Mutter. Sie weiss jetzt, dass es da eine Krankheit gab, deren Namen man nicht kannte. Und dass sie es war, die das Familienleben bestimmte.

Das alles muss selbstredend etwas ausführlicher erzählt werden. Auch etwas umständlicher als in den bisherigen Erzählungen der bald achtzigjährigen Alice Munro, die bekanntlich nie anderes als Storys geschrieben hat. Sogar ihr einziger Roman, «Das Bettlermädchen», ist nichts anderes als eine Aneinanderreihung einzelner Erzählungen. Doch im Lauf ihres schriftstellerischen Lebens hat es Munro fertiggebracht, in dichten und zugleich leichthändigen Storys ganze Romane zu erzählen. Auch dies blitzt im neuen Buch wieder auf, so etwa in der Beschreibung einer seltsamen Beziehung zweier Schwestern in der Erzählung «Die Schiene». Ganz nebenbei beschreibt sie auch, wie es auf der Farm ihrer Eltern heute aussieht und dass sich da sehr kurzlebige Unternehmungen angesiedelt haben. «Sportabzeichen aller Art, steht auf einem Schild, das bereits verwittert. Doppeltürige Hundehütten zu verkaufen. Antiquitäten und Gesichtsmarken werden angeboten. Braune Eier, Ahornsirup, Dudelsackunterricht und Unisexhaarschnitte.»

Im Rückblick wird auch plausibel, warum ein paar der elf Erzählungen in «Wozu wollen Sie das wissen?» etwas üppiger ausgefallen sind: Sie ersetzen eine mehrbändige Familienchronik aus 400 Jahren.

Alice Munro: Wozu wollen Sie das wissen?. Aus dem Englischen von Heidi Zerning. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2008. 381 Seiten. Fr. 34.90