Mariusz Wilk: Beängstigender Rückzug

Nr. 42 –

«Schwarzes Eis», das Buch über Russland, hat eine Fortsetzung in Tagebuchform erhalten. «Das Haus am Onegasee» spielt wieder im hohen Norden und wirft die Frage auf, warum sich sein Autor das antut.


Mariusz Wilk wurde als exponiertes Mitglied der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc in den achtziger Jahren mehrmals verhaftet, als Korrespondent in Moskau erlebte er die Implosion der Sowjetunion. 1993 zog er, noch keine vierzig Jahre alt, auf die Solowjezki-Inseln im Weissen Meer, um die Mentalität im ländlichen Russland zu studieren, die so gern «russische Seele» genannt wird. Wilk ist ein ebenso fantasievoller wie genauer Beobachter. So entwickelte er seinen eigenwilligen Stil, literarische Essays mit Elementen der Reportage und der kulturgeschichtlichen Recherche. 1998 veröffentlichte er «Wilczy notes» (Wilks Notizen); das Buch wurde in verschiedene Sprachen übersetzt, auch ins Deutsche - etwas monströs mit «Schwarzes Eis» betitelt.

Welt aus dem Winkel betrachtet

Inzwischen hat «Schwarzes Eis» eine Fortsetzung erhalten, auch wenn der Schauplatz im neuen Buch, «Das Haus am Onegasee», nicht mehr ganz so nördlich liegt wie die Solowjezki-Inseln, die Wilk mittlerweile zu laut geworden sind. Und diesmal wählte er die Form des Tagebuchs, es umfasst gut zwei Jahre, beginnend mit dem 1. September 2003.

Schon in den ersten Einträgen verweist der Autor erneut auf den Rat seines Schriftstellerkollegen Michail Prischwin: Wenn man sich längere Zeit in einem charakteristischen Winkel niederlasse und diesen sehr genau in Augenschein nehme, könne man sich einen besseren Eindruck von einem ganzen Land verschaffen als durch zahllose Reisen in die verschiedenen Landesteile. Das könne er bestätigen, fügt Wilk hinzu; seine zehnjährige Erfahrung auf den Solowjezki-Inseln habe ihn gelehrt, dass es noch besser sei, sich in einem solchen Winkel nicht als Beobachter zu verstehen, sondern etwas zu tun, das einen den Leuten und ihren Gepflogenheiten zwangsläufig näherbringe: ein Haus kaufen und renovieren oder eine Kirche instand setzen. Wilk selbst hat es auf komplizierten Amtswegen fertiggebracht, dass sein altes Haus als erstes in Konda Bereschnaja eine Stromleitung bekam. Seither sitzt er oft stundenlang am PC, Internetzugang aber hat er nicht, auch kein fliessendes Wasser; TV will und braucht er nicht: «Wir hören die Filme am Radio, weil man bei uns mit dem Transistorradio sogar den Ton des Fernsehens empfangen kann.»

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es 586 Dörfer in der Onega-Region, heute sind da noch fünfzig, und die wenigsten sind das ganze Jahr über bewohnt. Es war nicht die Oktoberrevolution, die diese Veränderungen bewirkt hat. Damals wurden Dörfer zu Kolchosen gemacht (jedes Dorf eine Kolchose) und neu benannt. Jetzt aber werden die Felder von Steppengras überwuchert, und die Menschen sterben am Wodka - weil es für die Regierenden anscheinend viel einfacher ist, Arbeitslosengeld und andere Sozialleistungen auszuzahlen als sich lebenswerte Perspektiven auszudenken und entsprechende Massnahmen umzusetzen. Diskutiert wird über einen ökologischen Tourismus, Künstlerateliers und die Wiederbelebung der dörflichen Kultur; derweilen werden am Onegasee überall Wälder abgeholzt, die fruchtbaren Schungitböden ausgebeutet (Schungit ist eine Art unreiner Kohle); als Nächstes wird wohl das darunterliegende Uran geplündert werden.

Unschärfen

Verbrannte Erde im russischen Norden, Verwüstungen auf Schritt und Tritt, das Thema ist für Wilk nicht neu. Doch sein Ton ist verbissener, seine Texte sind unzugänglicher geworden, und während der Lektüre lässt einen die Frage nicht mehr los, was den Tagebuchschreiber in dieser Gegend hält. Das schöne Licht, die Farben des Sees, sie allein können kein Grund dafür sein, jahrein, jahraus hier zu leben, mithin den ganzen Winter über, wenn man am liebsten im warmen Bett bliebe, der Liegestatt auf dem Ofen, statt draussen bei minus vierzig Grad mit der Axt das Eisloch im Onegasee aufzuschlagen. Solch mühseligen Alltag nimmt man wohl kaum auf sich, um bloss eine Entwicklung festzuhalten, Chronist zu sein in verlassener Gegend. Und dabei aus Quellen zu schöpfen, von denen der Tagebuchschreiber sagt, es seien oft muffige, seit Jahren nicht mehr gelesene Bücher und ihre AutorInnen: «Gelehrte, Verbannte, Herumtreiber, deren Namen völlig unbekannt sind und die auch in Russland kaum mehr jemandem etwas sagen.»

Das harte Leben ist dem Tagebuchschreiber in die Knochen gefahren. Auf einer Reise nach Polen hält er es unter so vielen Menschen nicht mehr aus. Er kann es kaum erwarten, wieder am Onegasee zu sein, obwohl hier auch der Sommer fürchterlich ist: «Ich schleppe mich in dieser Hitze mit Mühe jeden zweiten Tag zur Post in Welikaja Guba - blutige Kreise vor den Augen, der Mund innen rau, der Schritt feucht -, nur das kühle Bier im Schatten des Ladens verleiht mir die Kraft für den Rückweg.»

Der letzte Teil des Tagebuchs beschäftigt sich vor allem mit Schamanen, Verwandtschaften zwischen dem nördlichen Russland, Tibet, Nepal, Südkorea und Butan. Erzählt werden Anekdoten von Schriftstellern und andern einsamen Wölfen. Dabei ist man sich beim Lesen längst nicht mehr sicher, wer hier aus seinem Leben erzählt. Ist es bloss ein (fiktiver) Tagebuchschreiber? Wüsste man nicht, dass Mariusz Wilk mit Natalia, seiner grossen Liebe, an den Onegasee gezogen ist, könnte das Tagebuch als Bericht eines komplett Vereinsamten missverstanden werden.

Mariusz Wilk: Das Haus am Onegasee. Aus dem Polnischen von Martin Pollak. Paul Zsolnay Verlag. Wien 2008. 270 Seiten. Fr. 38.90