Durch den Monat mit Anna Frey (Teil 1): Mehr Ehrlichkeit?

Nr. 36 –

Anna Frey: «Ich frage: Wo sind die grössenwahnsinnigen Ideen, wo ist die Naivität?»

WOZ: Während andere über Politik oder ihr wildes Partyleben rappen, sind die menschlichen Abgründe Ihr Leitmotiv. Warum?
Anna Frey: Ich habe gemerkt, dass ich nur aus meiner Sicht erzählen kann. Alles andere wäre eine Anmassung. Ich kann über nichts schreiben, was ich nicht erlebt oder gefühlt habe. Das ist wie ein unglaubliches Bedürfnis nach Ehrlichkeit. Ich kann sehr schlecht lügen – in dem Sinne bin ich sehr uncool. Rap ist für mich eine Möglichkeit, mit der Welt zu kommunizieren.

Sie haben einmal in einer Kolumne geschrieben: «Das Recht, unglücklich zu sein, stimmt mich beinahe fröhlich.» Kommunizieren Sie in Ihren Texten das Unglücklichsein?
Nein, nicht nur. Aber ich möchte das Recht haben, über alles reden zu können, was eben da ist. In unserer Gesellschaft herrscht der Zwang, glücklich zu sein. Alles andere ist nicht erlaubt. Dabei haben alle ihre Unsicherheiten und Abgründe. Dass das so weit weg geschoben wird, finde ich komisch.

Woran liegt das?
Alles ist schön, alles ist sauber geputzt, die Menschen sind fröhlich und dynamisch. Ich glaube, die Flut entsprechender Bilder hat zugenommen. Die Vorbilder hängen überall auf den Werbeplakaten. Das ist eine Welt, die nicht existiert. Das ist alles falsch – aber omnipräsent. Und das soll jetzt das Ideal sein? Für mich ist das kein Ideal.

Was ist Ihr Ideal?
Ich kann nur glücklich sein, wenn ich weiss, dass ich auch unglücklich sein darf. Aber schau dir die Wünsche der Jungen an. Sie sind extrem ehrgeizig. Es gibt einen Lebensentwurf: Karriere machen, gut aussehen, eine wilde Jugend haben – trotzdem viel arbeiten und nicht rauchen. Irgendwann verliebt man sich, man hat ein Kind, wenn die Ausbildung fertig ist. Ich weiss, das klingt banal. Man hat es schon 10 000-mal gehört. Aber es ist so. Eine Traumwelt, die extrem steril und genussfeindlich ist. Und ich frage: Wo sind die grössenwahnsinnigen Ideen, wo ist die Naivität?

Glauben Sie, die Sinnsuche wird mit Werbeantworten ausser Gefecht gesetzt?
Ja, denn was will man heute sein? Die Jungen wollen berühmt, reich und schön sein. Ein Leben, in dem alles so aussieht wie in der Werbung.

Sehnen Sie sich in eine andere Ära zurück?
Nein, eigentlich nicht. Ich will nicht, dass jetzt die achtziger Jahre sind. Ich will auch nicht in Woodstock sein ...

Die Stadt sei Ihnen zu klein, rappen Sie in Ihrem Stück «Bombe». Sie wollen aber nicht weg, sondern dass sie grösser wird ...
Doch, ich will raus aus Zürich. Viele, die hier leben, wollen aus Zürich raus. Ist auch klar, wenn man in der Stadt aufgewachsen ist. Aber ich wollte damit sagen, dass ich Zürich nicht nur auf die Grösse bezogen klein finde, sondern auch darauf, was hier passiert. Die Stadt ist unglaublich prüde.

Wie äussert sich diese Prüderie?
Ich bin einfach immer wieder schockiert, wie schnell sich die Leute provoziert fühlen, von unglaublich kleinen Dingen. Da hast du manchmal das Gefühl, solche Reaktionen wären in den vierziger Jahren angemessen gewesen.

Sie meinen die Reaktionen auf Ihre Texte?
Zum Beispiel. Gut, ich war neunzehn, als mein erstes Album rauskam, ich rappte über die Teeniewelt, auch über Sex. Aber schau dich mal um, mit welchen Bildern junge Frauen konfrontiert werden. Es ist überall Sex. Fünfzehnjährige Girls laufen heute rum wie früher Dreissigjährige: extrem sexy. Wenn dann aber so eine junge Frau sagt, sie habe tatsächlich Sex, dann finden es alle schlimm. Das ist Doppelmoral. Das ist die Sterilität, die Unechtheit, die in all den Bildern steckt, von denen wir umgeben sind.

Fordern Sie mehr Ehrlichkeit?
Ja. Oder zumindest, dass man gewisse Sachen zulässt. Es heisst immer: Wir leben in der Schweiz, wir haben alles, was wir brauchen. Den meisten gehe es ja gut. Trotzdem muss man sich beklagen dürfen.

Haben Sie diesen Vorwurf schon oft gehört – uns geht es gut, wir dürfen uns gar nicht beklagen?
Ja, natürlich hörst du das. Oder: «Du bist so negativ.» Dabei sind ja nach wie vor so viele Vorurteile da, so viele Missverständnisse. Der Mensch lebt mit seinen Abgründen und Ängsten. So viele Menschen sind einsam. Zu sagen, dass es einem schlecht geht, ist unter diesen Umständen vielleicht viel positiver. Das ist eine Erleichterung. Es muss nicht immer allen gut gehen.

Anna Frey (22) hat am 4. April 2009 ihre zweite CD «Trotzdem» veröffentlicht. Nach dem Erscheinen ihrer ersten EP «Still Young» wurde sie im «SonntagsBlick» als «frechste Rotzgöre der Schweiz» betitelt.