Epochenbruch: Die Farbe der Katze

Nr. 45 –

Eine Nacht und ein Tag im WOZ-Archiv: wie das Jahr 1989 heute in den damaligen Titeln und Artikeln nachklingt.


Es sind 47 Ausgaben, und nur schon um alle Titel zu lesen, braucht man vier Stunden. Wobei, gerade die Titel: Wie Kurztelegramme aus einer vergangenen Zeit tönen sie.

Zum Beispiel dieser: «Befindlichkeiten ’89: Ende der Gewissheiten»

«Wer weiss», heisst es im Text unter dieser Überschrift in der letzten WOZ von 1989, «ob in einem Jahr die Sprunghaftigkeit, Verwirrlichkeit und Widersprüchlichkeit der politischen Realität sich geklärt haben werden. In Osteuropa beispielsweise haben sich die Verhältnisse ja oft täglich überschlagen, so dass jede Analyse und Prognose eine Woche später überholt schien, dafür gelegentlich die frühere plötzlich wieder Gültigkeit erhielt.»

Von «implosiven Ereignissen» ist weiter die Rede, von «diesem plötzlichen Zerfliessen der Macht»: Wie wurde das Ende des Ostblocks verfolgt? Was ereignete sich 1989 in der Schweiz? Sind auch Triebkräfte zu erkennen, Kontinuitäten?

«Sowjetisch-chinesische Wiederannäherung: Einigkeit über die Farbe der Katze» (12. Mai). «Die aktuelle Transferliste: Gorbi nach Bonn, Thatcher nach Warschau» (23. Juni). «DDR – Hunderttausende demonstrieren und staunen: Kopf hoch!» (10. November).

Das Ende scheint absehbar: Ein Besuch Michail Gorbatschows bei Deng Xiaoping wird im Frühling nicht als Annäherung, sondern als Ausdruck der Auflösung des Weltkommunismus beschrieben. «Zwei Genossen als Handelsvertreter. (...) Keiner will dem anderen mehr vorschreiben, welche Farbe seine Katze haben soll.» Hauptsache, sie fange Mäuse.

Wer in der WOZ ideologische Grabenkämpfe erwartet, trifft auf überraschend leise Töne. Aus der Reportage einer der letzten ostdeutschen Demos vor dem Mauerfall: «Das sind nicht die nächtlichen dunklen, eiligen Züge wie am 7. und 8. Oktober, das strömt mit Tausenden Schildern, Tafeln und Transparenten dahin. Alle Leute sind beschäftigt, die Sprüche zu lesen und zu kommentieren. Viele einfach Sätze, ohne Reim, ohne Ausrufungszeichen, wie ein leise hingesagter Gedanke.»

Etwas anderes scheint möglich: In Interviews mit dem Schriftsteller Heiner Müller oder dem Verleger Walter Janka werden Alternativen zur DDR diskutiert. Vor allem aber hat der Aufbruch dort mit einem Aufbruch hier zu tun:

«50 Jahre Mobilmachung: Flächendeckendes EMD-Projekt Diamant: Eidgenossen feiern Kriegsausbruch!» (17. Februar). «Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg, Teil 1: Produktionsoase des Dritten Reiches» (18. August). «35,6 Prozent der Schweiz ohne Armee: Löcher in der Mauer» (1. Dezember).

Ein Drittel der Bevölkerung spricht sich im Dezember für die Abschaffung der Armee aus: Das sei ein «sensationelles» Resultat. «Die Schweiz hat den Reformaufbruch in Europa nicht verschlafen», werden die InitiantInnen zitiert.

Begonnen hat die Berichterstattung mit der Enthüllung der Diamant-Feiern: als Werbefeldzug für die Armee, auch im Hinblick auf die Abstimmung. Damit das alle richtig verstehen, heisst es gleich im ersten Satz des Artikels: «Die Schweiz ist wohl das einzige Land in Europa, das nicht das Ende des Zweiten Weltkrieges feiert, sondern dessen Ausbruch.» Damit ist der Spiess umgedreht, fortan sind die BefürworterInnen der Initiative immer einen Schritt voraus: Zum Auftakt der Diamant-Feiern beginnt in der WOZ eine siebenteilige Serie zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg, die bis zu den Naziverbindungen der Zigarrenfabrik Villiger reicht.

«Ein Thriller namens PUK-Bericht: Rundgang in der Dunkelkammer» (1. Dezember). «Zur PUK-Debatte im Nationalrat: Kein Staatsschutz» (15. Dezember).

Zwei Tage vor der Armee-Abstimmung veröffentlicht die Parlamentarische Untersuchungskommission PUK ihren Bericht zum Kopp-Rücktritt, inklusive Fichen. «Dass die Bundespolizei unkontrolliert fortschrittliche Bewegungen überwacht, wussten wir schon bisher», kommentiert die WOZ. Ihre Forderungen gehen weiter als die der PUK: Abschaffung des Staatsschutzes und Einsicht in die Akten: «Die PUK stellt den Sinn der Stasi nicht grundsätzlich in Frage, sie kritisiert nur deren bisherige Ineffizienz», heisst es. Und: «Die PUK beehrt sich zwar mitzuteilen, dass über uns obskure Dossiers geführt werden. Aber die konsequente Forderung, diesen Stall restlos auszumisten, fehlt (...) Was wir brauchen, ist soviel Druck von uns Registrierten, bis wir uns unsere Akten holen können.»

Texte aus 1989 zu lesen, das ist ein wenig wie nach draussen gehen und frische Luft schnappen. Das Gefühl, dass etwas möglich ist. Warum nur war es von so kurzer Dauer? Weil der Aufstand und das Fest immer nur ein Moment sind. Und höchstens immer wieder hergestellt werden können.

Trotzdem: Warum folgten auf den Aufbruch statt Jahre der sozialen Erneuerung solche der Zertrümmerung? Warum ist heute so wenig von Freiheit und so viel Misstrauen zu spüren? Tatsächlich sind in der WOZ ein paar Triebkräfte beschrieben. Es sind bemerkenswerte Artikel, etwas fern vom Lauf der Dinge:

«Finanzplatz New York – Schweizer Banken expandieren: Blick ins Foyer» (31. März). «Geheime Papiere zum Schengen-Informationssystem SIS: Ein elektronisches Fahndungsnetz für die EG» (30. Juni). «Veränderungen in der Industriewelt: Ganzheitliche Arbeit dank flexiblen Fertigungssystemen? CIM – Der Computer-integrierte Mensch» (17. November).

Expansion, Digitalisierung, Flexibilisierung, von diesen Prozessen und ihren möglichen Folgen handeln die Berichte. So vertrackt beispielsweise der letzte klingt, so klarsichtig ist er: Beschrieben wird die «Just-in-time-Produktion» bei Sulzer, und wie sie zu einer «Stamm-» und einer «Randbelegschaft» führen könnte. Und damit letztlich zu einer «Zwei-Drittel-Gesellschaft».

Vielleicht kann man journalistisch aus dem Jahr 1989 lernen, immer auch technische, ökonomische, soziale Modelle und Abläufe zu beschreiben. Nicht sogenannt schonungslos, wie das der rechte Medienmainstream fordert. Sondern mit einem Gespür für die Mechanik der Macht.

Damit sind die politische Verwirrlichkeit und Widersprüchlichkeit des Jahres 1989 noch lange nicht geklärt: Die Diskussion über Perestroika und Mauerfall, über den Fichenskandal und die Armeeabstimmung als Weichenstellung hat auch erst begonnen. Gewiss ist nur die Folge: Hauptsache, die Katze fängt Mäuse. Noch mehr Mäuse.