Die Last der Geschichte: Ein Land ohne Chance
Riesige Schulden und Desinteresse des Auslands machten Haiti schon vor den Erdbeben zum gescheiterten Staat.
Sie sind wieder da. Helikopter der US-Armee landeten letzten Mittwoch auf dem Gelände des zusammengestürzten Präsidentenpalasts in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. Soldaten mit umgehängtem Sturmgewehr übernahmen das Gelände und richteten eine Zentrale ein.
Der Flughafen wird bereits seit einigen Tagen von den Marines kontrolliert. Sie entscheiden darüber, welche Maschinen mit Hilfsgütern für die Erdbebenopfer landen dürfen und welche erst einmal auf Flughäfen der benachbarten Dominikanischen Republik verharren müssen. Und sie entscheiden darüber, wer das Land verlassen darf.
Ein Flugzeug der US-Luftwaffe mit einer Radiostation an Bord kreist über dem zerstörten Haiti und funkt in der dort gesprochenen Volkssprache Creol nur eine Botschaft: Bleibt zu Hause. Versucht nicht, in die USA zu gelangen. Ihr seid dort nicht willkommen. Wen wir auf dem Meer erwischen, den schicken wir zurück.
Was als grösste humanitäre Hilfsaktion der USA verkauft wird, ist im Grunde Verteidigungspolitik gegen Elendsflüchtlinge. In der US-amerikanischen Enklave Guantánamo auf Kuba, wo noch immer Terrorismusverdächtigte eingekerkert sind, werden schon Lager für die auf See aufgegriffenen HaitianerInnen eingerichtet. Die schwarze Elendsrepublik der Karibik tritt immer nur dann ins Blickfeld der USA, wenn US-Interessen betroffen sind.
Zuletzt waren die Marines 1994 da. 20 000 US-SoldatInnen übernahmen die Insel und setzten den drei Jahre zuvor militärisch gestürzten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide wieder ein. Guantánamo war damals überfüllt mit haitianischen Bootsflüchtlingen. Mit der Rückkehr des Volkshelden Aristide sollte die Flut der Auswandernden aufgehalten werden. im Vorfeld hatte man dem einst linken Hoffnungsträger knallharte Bedingungen auferlegt: Er werde nur dann zurück ins Präsidentenamt gebracht, wenn er sich zukünftig dem ökonomischen Diktat von Weltbank und Internationalem Währungsfonds beuge.
Staat als Eigentum
Auch bei der US-Invasion von 1915 ging es letztlich ums Geld. In Washington befürchtete man, Haiti werde den Schuldendienst einstellen. Das hätte sich negativ auf den Profit einiger US-Banken ausgewirkt. Also übernahmen die Marines das Land und verwalteten es bis 1934 wie ein Militärprotektorat. Es waren diese Schulden, die das Land seit dem 19. Jahrhundert erwürgten.
Die Geschichte Haitis wird gerne als Geschichte des Scheiterns der weltweit ersten schwarzen Republik kolportiert: von der «Perle der Karibik» aus der Zeit der französischen Kolonialherrschaft zur Hölle. Tatsächlich produzierte Haiti im 18. Jahrhundert sechzig Prozent des in Europa konsumierten Kaffees und vierzig Prozent des Zuckers. Eine Perle aber war es nur für die Kolonialmacht Frankreich und die wenigen weissen SiedlerInnen. Für die Masse der schwarzen SklavInnen war es schon damals die Hölle. Bis zu 40 000 von ihnen wurden jährlich importiert, ihre durchschnittliche Lebenserwartung lag bei rund zwanzig Jahren. Strafen wie Pfählen und Vierteilen waren auch für kleine Vergehen die Regel.
Entsprechend grausam schlugen die Schwarzen zurück, als sie nach der Französischen Revolution auch für sich die Menschenrechte einforderten und in einem zwölfjährigen Krieg die Unabhängigkeit erkämpften. Die erste unabhängige Republik Lateinamerikas entstieg 1804 einem gigantischen Blutbad. Städte, Infrastruktur und Plantagen waren zerstört.
Danach gab es gleich Streit. Die ehemaligen Plantagenaufseher, meist Mulatten, wollten die riesigen Monokulturen als Staatsbetriebe weiterbetreiben. Die schwarzen ehemaligen ArbeitssklavInnen verlangten hingegen eigene kleine Parzellen – und setzten sich durch. Damit legten sie den Grundstein für spätere Katastrophen: Die kleinen Landstücke reichten gerade zum Überleben. Holz war und ist der wichtigste Energieträger des Landes – die Folge ist eine weitreichende Entwaldung. Starke Regenfälle – in der Karibik üblich – führen deshalb sofort zu verheerenden Überschwemmungen und Erdrutschen.
Die im Streit um das Wirtschaftsmodell unterlegene neue Elite zog in die Städte und bildete dort eine kleine Oligarchie, die sich vor allem dem Handel und der Verwaltung widmete. So ist das bis heute: eine kleine, aber reiche mulattische Schicht, die den Staat als ihr Eigentum betrachtet, und eine Masse von armen Schwarzen, die auf dem Land auf Miniparzellen lebt und in der Stadt in den Slums.
Das eigentliche Problem aber war ein Knebelvertrag mit Frankreich, mit dem sich die junge Republik 1825 die internationale Anerkennung erkaufte. Haiti verpflichtete sich, eine für damals gigantische Entschädigung von 150 Millionen Francs zu bezahlen. Das Geld wurde bei Banken in den USA, Frankreich und Deutschland aufgenommen. Erst 1947 hatte Haiti diese Schulden abbezahlt. Zinsen und Tilgung frassen achtzig Prozent des Staatshaushalts auf. Nichts blieb übrig, um eine Infrastruktur aufzubauen.
Die herrschende Elite merkte sehr schnell, dass so kein Staat aufzubauen ist. Sie verlegte sich darauf, das wenige verbleibende Geld des Staates in die eigene Tasche zu wirtschaften. Der Kampf um die Pfründe führte immer wieder zu Staatsstreichen, regelmässig entlud sich die Wut der frustrierten Massen in Aufständen. Die korruptesten unter den Potentaten waren die Duvaliers, die das Land von 1957 bis 1986 regierten. Der von den USA geförderte Vater François herrschte mithilfe der Privatmiliz der Tonton Macoutes, die bis zu 60 000 Menschen ermordete. Sein Sohn Jean-Claude war ein Playboy, der sich dem Ausplündern der Staatskasse widmete. Als er nach langen Unruhen 1986 ins Exil nach Frankreich verschwand, nahm er schätzungsweise 900 Millionen US-Dollar mit.
Potentaten und Pragmatiker
Seit der Rückkehr Aristides 1994 wird Haiti nominell links regiert. Auf Aristide folgte sein Premierminister René Préval. Danach kam wieder Aristide. Nun eiferte dieser früheren Potentaten nach und kümmerte sich nicht um das Land, sondern nur noch um sich und seine Klientel. Seine Macht sicherte er mit kriminellen Schlägertrupps aus den Slums, die sich «Schimären» oder «Kannibalenarmee» nannten. Die Oligarchie nutze die Unzufriedenheit der Bevölkerung und zettelte in Tateinheit mit ehemaligen Militärs und Todesschwadronen einen weiteren Volksaufstand an, der Aristide 2004 zum zweiten Mal ins Exil zwang.
Diesmal schritten die USA nicht ein. Nach der Flucht Aristides versuchte die Uno, das Land zu stabilisieren und politische und kriminelle Gangs zu entwaffnen – was ihnen teilweise auch gelang. Nach zwei Jahren Übergangsregierung wurde der Pragmatiker Préval zum zweiten Mal ins Präsidentenamt gewählt, allerdings ohne Mehrheit im Parlament. Dort hat noch immer die in viele Kleinparteien zersplitterte Oligarchie das Sagen, und die liess eine Regierungsmannschaft nach der anderen auflaufen. Noch immer leben 80 Prozent der Bevölkerung in Armut, 50 Prozent sind AnalphabetInnen, 75 Prozent sind arbeitslos. Es gibt keine nennenswerte Infrastruktur. Und in der Staatskasse ist noch immer kein Geld. – Dann kamen die Beben.