Hungerlöhne: Vom Tellerwäscher zum Arbeitslosen
Gespart wird in Zeiten der Wirtschaftskrise überall. Im Schweizer Gastgewerbe leiden darunter vor allem die Ungelernten. Auch mit dem neuen Gesamtarbeitsvertrag wird ihre Lage nicht besser.
Mazlum K. arbeitete bis vor kurzem in einem grossen Restaurant mit Hotelbetrieb im Kanton Zürich als Geschirrwäscher. Essensreste in den Schweinekübel, Teller, Gläser und Besteck vorspülen, in die Maschine stellen und danach wieder verräumen. Dieser Arbeitsbereich heisst im Jargon Office.
Im Jahr 2003 begann der kräftig gebaute Mann seine Arbeit im Ausflugsrestaurant. Damals hätten gleich mehrere Angestellte den Betrieb verlassen. Der Hotelier sei froh um ihn gewesen, weil er spontan – als Notnagel quasi – eingesprungen sei, erzählt der heute 37-jährige anerkannte Flüchtling. Sein Blick ist wach, seine Stimme klar, während er von seinem Job erzählt. Er habe sich bei der Arbeit immer sehr eingesetzt, weil die Maschinerie nur in Betrieb gehalten werden könne, wenn alle ihr Bestes gäben. Falls nicht, litten die anderen MitarbeiterInnen darunter. Bei regem Betrieb habe er auch mal ohne Pause durchgearbeitet. Regelrecht geschuftet, damit das Geschirr nicht plötzlich ausgeht. Mazlums Anfangslohn betrug damals, vor sechs Jahren, 3200 Franken brutto. Nicht viel für einen zweifachen Vater.
Mazlum K.s Job gilt als Arbeit «ohne besondere Anforderungen». Doch auch er muss speditiv arbeiten, flexibel sein und körperlich fit – das wird im Gastgewerbe allen abverlangt. Mazlums Tätigkeit ist ein Knochenjob, der fast ausschliesslich von AusländerInnen ausgeübt wird. An sonnigen, umsatzstarken Tagen geraten die Angestellten oft an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Das ist in einem Ausflugsrestaurant nichts Aussergewöhnliches. Mazlum ist, so erzählt er, selbstständiges Arbeiten gewohnt. «Ich war in der Türkei Schlosser mit eigenem Betrieb und beschäftigte bis zu fünfzehn Angestellte.»
Mazlum K. kam vor acht Jahren in die Schweiz. Nach zwei Jahren im Asylbewerberheim war er froh, endlich eine Arbeit zu haben. Die Aussicht auf ein parallel zur Berufserfahrung steigendes Einkommen betrachtete er als lohnende Perspektive. Tatsächlich erhielt er nach sechs Jahren gut 3900 Franken plus einen 13. Monatslohn. Auf einen solchen hatte er gemäss Gesamtarbeitsvertrag (GAV) zu Beginn seiner Anstellung keinen Anspruch.
Die «Austauschbaren» ersetzen
Vor rund einem Monat folgte dann, sehr überraschend, die Kündigung. Sein Chef sagte ihm beim Entlassungsgespräch, er arbeite zu langsam. Mazlum K. kann es auch heute noch kaum fassen: «Jahrelang war man zufrieden mit meiner Arbeit, ich habe zumindest nie etwas Gegenteiliges gehört, und jetzt soll ich plötzlich zu wenig schnell gearbeitet haben.» Er ist sicher, dass die Begründung seines ehemaligen Chefs fadenscheinig ist: «Ich wurde inzwischen mehrmals von ihm angefragt, ob ich im Betrieb aushelfen könne.» Er habe dies auch gemacht, weil er noch keine neue Arbeit gefunden habe. «Warum engagiert er mich bei Bedarf, wenn ich angeblich doch nur auf Sparflamme laufe?»
Mazlum hatte seinen Vorgesetzten aufgefordert, ihm den wahren Grund für die Entlassung zu nennen. Der Hotelier sei bei seiner Begründung geblieben, doch der Abteilungsleiter habe ihm später reinen Wein eingeschenkt: Indem man ihn entlasse und jemand anderen neu einstelle, liessen sich einige Tausend Franken einsparen. Wenn der Hotelbetrieb mit seinen über fünfzig Angestellten die «Austauschbaren» ersetzt, kann er bei den neu eingestellten Kräften wieder ganz unten auf der Lohnskala beginnen. In wirtschaftlich schlechten Zeiten wird eine solche Ersparnis von manchem Wirt höher gewichtet als der Vorteil, verlässliches, dafür etwas teureres Personal mit Erfahrung zu haben.
Eine bittere Pille
Beim neuen Gastgewerbe-GAV 2010/2012 hat sich für die Lohnabhängigen einiges verbessert. So wird der 13. Monatslohn ab 2012 von Beginn weg ausgezahlt, während die Chefs und Chefinnen ihn bisher erst nach sechs Monaten zu 50 Prozent, nach einem Jahr zu 75 Prozent und nach einem weiteren Jahr voll zahlen mussten. Auch der Lohnabzug von 10 Prozent, den Betriebe in wirtschaftsschwachen Gebieten oder Bergregionen machen konnten, fällt ab 2012 weg.
Eine bittere Pille aber müssen die Ungelernten schlucken: Bei ihnen wird 2012 ein sogenannter Einarbeitungsabzug von 10 Prozent während der ersten sechs Monate einer Anstellung eingeführt. 2013 sind es dann noch 8 Prozent. Dieser Abzug ist ausschliesslich bei den unqualifizierten ArbeiterInnen möglich. Zudem ist er nur innerhalb des gleichen Betriebs einmalig. Bei einem Stellenwechsel wird dieser Abzug erneut vorgenommen, er gilt sogar bei befristeten Anstellungsverhältnissen. Da die Fluktuation im Gastgewerbe vor allem in den Saisonbetrieben enorm hoch ist, wird diese Regelung einen grossen Teil der ungelernten Angestellten betreffen. Auch für die Gewerkschaft Unia ein Wermutstropfen: «Ohne dieses Zugeständnis hätten die Wirte den GAV mit all seinen wichtigen Neuerungen gekippt», sagt Mauro Moretto von der Unia.
Der Druck entlädt sich ganz unten
Obwohl sich beim neuen Gastgewerbe-GAV einiges verbessert hat, wäre er für Mazlums NachfolgerIn im Hotelrestaurant nicht unbedingt besser. Als «gut für alle» bezeichnen die SozialpartnerInnen das Vertragswerk. Auch wenn dieser GAV viele wichtige Errungenschaften beinhaltet: Diejenigen, die auf der Lohnskala zuunterst figurieren, fahren zum Teil sogar schlechter als mit dem alten Vertrag. Zusätzlich spüren sie den allgegenwärtigen Druck am meisten. «Steht der Chef unter Druck, gibt er ihn dem Abteilungsleiter weiter, dieser dem Rayonchef und so fort», sagt Mazlum. «Ganz unten, da, wo sich alles entlädt, stehen wir.»
Mazlum K. will möglichst bald eine neue Stelle, aber lieber nicht mehr im Gastgewerbe. Auf dem RAV sehe er auch Leute, die Spass am Herumhängen hätten. Das sei aber nichts für ihn. Er wolle arbeiten, vielleicht etwas Neues lernen oder auf irgendeine Art auch seine handwerklichen Kenntnisse einbringen können. Über seinen ehemaligen Chef urteilt er differenziert: Er habe ihn als fairen Vorgesetzten empfunden, mit dem man auch mal reden konnte, wenn privat etwas nicht in bester Ordnung war. Doch auch der Beizer müsse dort sparen, wo er könne. Und das ist oft dort, wo genug Leute sind, die für eine frei gewordene Stelle anstehen und die sich meist nicht wehren und nur selten in einer Gewerkschaft organisiert sind.
Gewerkschaften und SP wollen Mindestlohn
Die Schweiz kennt keinen landesweiten Mindestlohn. Eine gesetzliche Untergrenze bei den Löhnen gibt es nur dort, wo ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV) oder ein Normalarbeitsvertrag (NAV) Mindestlöhne regelt. Branchen, die keine solchen Verträge kennen, sind meist im Tieflohnsegment zu finden, wie etwa die Landwirtschaft oder der Detailhandel.
Keine Hungerlöhne mehr in der reichen Schweiz, das wollen Gewerkschaften und SP mit einer Mindestlohninitiative erreichen. Sie soll voraussichtlich noch in diesem Jahr lanciert werden. Die Chancen für eine Annahme stünden heute wohl gut, nicht zuletzt wegen der hohen Bonizahlungen der Banken. Die überspreizte Lohnschere empört viele Menschen, besonders nachdem der Bund – und damit letztlich die SteuerzahlerInnen – die UBS mit Milliardensummen vor dem klassischen Tod überdimensionierter Gebilde bewahren musste.
Gesetzlich festgelegte Mindestlöhne würden Missbrauch zwar nicht gänzlich unterbinden, fehlbare Betriebe könnten jedoch juristisch belangt werden. Dabei müssten aber auch bisher erlaubte Umgehungstricks strafbar werden. Ein Beispiel: Der Discounter Aldi zahlt zwar Löhne über dem Branchendurchschnitt, bietet aber fast ausschliesslich Stellen mit variablem Teilzeitpensum an. Vom Personal – offiziell zu fünfzig bis siebzig Prozent angestellt – wird grosse Flexibilität verlangt. Überstunden zu leisten ist für Aldi-MitarbeiterInnen die Regel, ein Zuschlag wird nicht bezahlt. Einen Zweitjob auszuüben ist damit für die Angestellten praktisch unmöglich. Für Aldi heisst das: maximale Verfügbarkeit über die Arbeitskraft der Angestellten, die wiederum nie genau wissen, welcher Betrag Ende Monat tatsächlich auf dem Salärkonto ist.
Tieflöhne gibt es auch in der Reinigungsbranche. Vor Jahren begannen Institutionen der öffentlichen Hand, aber auch grosse private Unternehmen mit der Auslagerung des Reinigungspersonals. Die Betriebe schreiben seither die Aufträge regelmässig neu aus. Damit sind sie flexibel, sparen Kosten und lagern damit auch die soziale Verantwortung aus – Hungerlöhne bezahlen andere. Viele Reinigungsfirmen zahlen Tiefstlöhne und bieten minimale Sozialleistungen – um überhaupt konkurrenzfähig zu sein. Manche Raumpflegerin bekam nach dem Outsourcing für die gleiche Arbeit statt 23 Franken plötzlich nur noch 17 Franken pro Stunde brutto. In der Reinigungsbranche gibt es zwar einen GAV, nicht alle müssen sich aber daran halten. Kleinere Betriebe mit weniger als sechs Angestellten können die ohnehin schon tiefen Mindestlöhne legal unterbieten. Ebenfalls erlaubt sind solche Löhne unter dem Existenzminimum in Bereichen, die keine vertraglich festgelegte Untergrenze kennen. Gemüserüstereien beispielsweise, die wegen ihrer geringen Grösse nicht als industrielle, sondern als landwirtschaftliche Betriebe gelten. Dort sind Fünfzig-Stunden-Wochen bei tiefsten Lohnansätzen normal.