Das Jahrhundert der Bilder: Wenn man mehr sieht, als zu sehen ist

Nr. 11 –

Es gibt Fotos, die sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben haben. Zwei schwere Bände gehen der Geschichte dieser Superbilder nach.


Gerhard Paul beschäftigt sich mit Bildern, die die Welt bewegen. Der Geschichtsprofessor aus Flensburg ist wohl einer der wichtigsten Vertreter der Visual History. Er hat das gigantische zweibändige Werk «Das Jahrhundert der Bilder» herausgegeben – eine Art Lexikon der Bilder in unserem Kopf. Über hundert ikonografische Bilder werden von verschiedenen WissenschaftlerInnen analysiert. Es geht um Bilder, die alle kennen. Bilder, die Geschichte gemacht haben, auch wenn oft kaum mehr jemand die Geschichten hinter den Bildern kennt; im Bildatlas werden sie erzählt, die Lücken gefüllt und auch darüber sinniert, was die Bilder mit uns anstellen.

Es geht auch um Bilder, die heute nicht mehr spektakulär wirken, aber doch erst angefertigt sein wollten wie zum Beispiel die Darstellung der Doppelhelix unseres Erbguts, der DNA.

Schlicht und schön

Die beiden Wissenschaftler James Watson und Francis Crick hatten die Doppelhelixstruktur – die einer gedrehten Leiter gleicht – erstmals 1953 in der Zeitschrift «Nature» als schlichte Schwarz-Weiss-Zeichnung präsentiert.

Ihr Modell war überzeugend, gerade weil es so schlicht und schön wirkt. Wirklich durchgesetzt hat sich das Bild der gedrehten Leiter aber erst in den sechziger Jahren dank Watsons Begabung, sich medial zu verkaufen. Er erkannte früh, dass erfolgreiche Wissenschaft inszeniert werden muss, und schrieb ein populärwissenschaftliches Buch über die Entdeckung der Doppelhelix.

«Nature» macht seither brav mit, zelebriert alle zehn Jahre den Geburtstag der DNA-Entdeckung und hat damit dazu beigetragen, dass das Bild der gedrehten DNA-Leiter zum Allgemeingut wurde. Doch braucht es noch ökonomische Interessen, bis der Status eines Superbilds erreicht ist, wie Martina Hessler in ihrem Beitrag «Doppelhelix – Die Karriere eines Wissenschaftsbildes» schreibt: «Der Aufstieg der DNA zu einer solchen Ikone innerhalb der Wissenschaften selbst ist nicht denkbar ohne den Aufstieg der Biotechnologie und das Human Genom Project (HPG). Erst die medizinische Anwendung der Erkenntnis und ihre Kommerzialisierung machten das Bild der DNA zu einer Ikone der Lebenswissenschaften.»

Der Vietnamkrieg bescherte ebenfalls einige Bilder, die bis heute prägen. 1968 ging es um das Massaker von My Lai, US-amerikanische Soldaten hatten dort an die 600 ZivilistInnen niedergemetzelt. Der Militärfotograf Ronald Haeberle war dabei, machte für die Armee Schwarz-Weiss-Fotos, für sich privat nahm er Farbbilder auf. Die Öffentlichkeit bekam die Bilder allerdings erst eineinhalb Jahre später zu sehen. Die Armee hatte versucht, das Massaker zu vertuschen. Der junge Journalist Seymour M. Hersh recherchierte jedoch hartnäckig und machte das Massaker als erster öffentlich. Es war auch Hersh, der – dank seiner guten Beziehungen zum Militär – fast vierzig Jahre später die Misshandlungen im irakischen Militärgefängnis Abu Ghraib aufdeckte.

Die Folterbilder, die dort entstanden sind, haben sich ebenfalls ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Insbesondere das Bild des Gefangenen, der wie ein Gekreuzigter in Umhang und Kapuze dasteht. Anders als in Vietnam wird hier das Bild Teil der Misshandlung. Es geht nicht mehr darum, Schreckenstaten zu dokumentieren, sondern die Opfer durch den Akt des Fotografierens zu erniedrigen.

Lügen und Legenden

Um viele der Superbilder ranken sich auch Legenden oder Lügen. Man glaubt zu sehen, was sie erzählen, derweil sie in Wahrheit unter ganz anderen Umständen entstanden sind. Ein typisches, aber wenig bekanntes Beispiel betrifft die ersten Bilder des brennenden Reaktors in Tschernobyl. Der russische Kriegsfotograf Igor Kostin setzte sich gekonnt in Szene, um alle Welt glauben zu machen, er habe am 26. April 1986 die ersten Fotos des geborstenen Reaktors geschossen. Die WOZ trieb vor vier Jahren die tatsächlich ersten Bilder auf, die der Tschernobyl-Werkfotograf Anatoli Rasskasow aufgenommen hatte. Er hatte jedoch die Negative dem Geheimdienst überlassen müssen und erst nach fast zwanzig Jahren wieder einige Abzüge erhalten. Gerhard Paul hat die Geschichte von Rasskasow und seinen Bildern in seinem Beitrag über Tschernobyl aufgenommen und räsoniert über die Schwierigkeit, derartige Katastrophen überhaupt in Bilder zu fassen, da sich der wahre Schrecken des Super-GAUs gar nicht fotografieren lässt.

Bilder verändern permanent ihren Einfluss, doch solange man mitten drin steht, lässt sich schwer beurteilen, was die Bilder mit uns anstellen. Das lässt sich an «Second Life», dem letzten Beitrag im Bildatlas, veranschaulichen. Second Life ist eine virtuelle Parallelwelt, an der sich alle beteiligen können. Vor vier Jahren boomte das Internetspiel, das gar kein Spiel im engeren Sinn ist, sondern erlaubt, eine eigene Welt zu schaffen.

Second Life hatte aber von Anfang an Mankos; so können zum Beispiel nur hundert Kunstfiguren, sogenannte Avatare, gleichzeitig am selben Ort agieren. «Aus ökonomischer Sicht ist Second Life mit dieser Einschränkung gegenüber anderen Online-Communities und sozialen Netzwerken wie MySpace oder Facebook stark benachteiligt, da Werbekampagnen für die klassischen Medien für viele Millionen Kunden geplant werden», schreibt Karin Wehn in ihrer Analyse über Second Life. Der Second-Life-Hype ist vorbei, die Welt verödet und vergandet. Die Medien- und BildwissenschaftlerInnen stellt es jedoch vor ganz neue Grundsatzfragen: Sie können nicht beurteilen, wie wichtig das Phänomen überhaupt ist, gleichzeitig ist diese neue Welt flüchtig und unfassbar. «Second Life ist riesig und für einzelne Wissenschaftler nicht mehr nachvollziehbar», schreibt Wehn. Es verändert sich in Echtzeit, wird nicht archiviert – ist aber gleichzeitig ein Ort, «dessen Aktionen in die reale Welt zurückwirken und reale Auswirkungen auf gesellschaftliche Sozialsysteme wie das Rechtssystem, das Wirtschafts- und Kunstsystem» habe, konstatiert Wehn. Wie das passiert, lässt sich in der neuen Flüchtigkeit kaum mehr nachvollziehen. Klar ist nur: Bilder sind nicht mehr Abbildungen oder Interpretation einer Realität, sondern schaffen selbst Realitäten.

Gerhard Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen 2008/2009. 2 Bände. 798 Seiten. Pro Band Fr. 64.90