Tunesien und die Schweiz: Investieren und wegschauen

Nr. 3 –


Afra Weidmann ist dieser Tage viel am Telefon. Die Menschenrechtsaktivistin aus Zürich hat sich jahrelang für tunesische Flüchtlinge eingesetzt, damit sie hier Asyl bekommen. «Jetzt rufen sie bei mir an und gratulieren», lacht sie, «wie wenn ich zur Revolution in Tunesien etwas beigetragen hätte.»

In der tunesischen Diaspora herrscht Aufbruchstimmung. Diktator Zine al-Abidine Ben Ali wurde vergangenen Freitag nach wochenlangen Protesten der Bevölkerung gestürzt. Zwar wird derzeit noch heftig über die Zusammensetzung der Übergangsregierung gestritten, doch schon jetzt ist klar, dass sich die politische Situation im Land grundsätzlich verändert hat. Die Zensur ist abgeschafft, die politischen Gefangenen kommen frei, bald wird es demokratische Wahlen geben.

Weidmann, eine pensionierte Krankenpflegerin, hat in den letzten zehn Jahren 110 «Fälle» von TunesierInnen unentgeltlich betreut. Zumeist mit Erfolg. Die Schweizer Behörden wussten: Wer gegen das Regime Ben Alis aktiv ist, muss mit Gefängnis und Folter rechnen. Und nicht nur das. Auch viele Angehörige von Verfolgten haben in der Schweiz Asyl erhalten. Denn Ben Alis Regime nahm sie in Sippenhaft: So wurden etwa Kindern von Oppositionellen Stipendien vorenthalten, weshalb sie nicht studieren konnten.

Mit dem Sturz von Ben Ali herrscht für die Staaten, die sein Regime unterstützten, Erklärungsbedarf. Allen war klar, was für ein undemokratisches, despotisches Regime in Tunesien herrschte. Dennoch baute auch die offizielle Schweiz die Handelsbeziehungen stark aus und wagte nur selten, die Menschenrechtssituation zu kritisieren.

Die in Tunesien geborene Saida Keller-Messahli war vor kurzem noch zu Besuch in Tunesien. Sie sagt, die Menschen seien «sehr politisiert» und sich sehr genau bewusst, dass das diktatorische Regime Ben Alis von Europa gestützt worden sei. «Niemand hat das verstanden.»

Seit Juni 2005 ist zwischen der Schweiz und Tunesien ein Freihandelsabkommen in Kraft. Seither haben sich die Schweizer Exporte nach Tunesien fast verdoppelt. Gleichzeitig vermarktete sich Tunesien hier als friedliche Ferien- destination. In den Reisebeilagen Schweizer Medien wurde das Land immer wieder als Ferienparadies geschildert, als «die Schweiz Afrikas», wie es zuweilen hiess.

Dabei wussten alle, die es wissen wollten, dass Ben Ali und sein Familienclan sich an den wirtschaftlichen Erträgen des Landes schamlos bereicherten. «Für einen grossen Teil der Bevölkerung ging es in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich immer nur bergab», sagt Keller-Messahli. Artikel dazu fanden sich nicht nur in der WOZ. Dennoch ermunterten die Schweizer Behörden hiesige Firmen, in Tunesien zu investieren. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) schilderte Tunesien in seinem jüngsten Länderbericht als Staat, der in den nächsten Jahren grosse Investitionen in die Infrastruktur tätigen wolle. Als Risikofaktor sah das Seco nur Anschläge von «radikalen Islamisten» und eine mögliche Dürre.

Auch die Schweizer Botschaft hat Tunesien gegenüber WirtschaftsvertreterInnen immer wieder in rosigen Worten als Investitionsland beschrieben. Wer dort für den Export produziere, den erwarte ein «Steuerparadies», heisst es in einem im Juni 2010 verfassten Papier. Hinweise auf die grassierende Korruption der führenden Schicht fehlen. In einem Botschaftspapier vom Juli 2008 wird das Thema allerdings kurz gestreift: Geschenke an Regierungsvertreter könnten als Bestechung aufgefasst werden, heisst es dort zweideutig. Deshalb solle man sich versichern, «dass das Geschenk auf Zustimmung stösst, bevor man es darbietet».

Der Bundesrat hat am Mittwoch – gestützt auf die Bundesverfassung – beschlossen, mögliche Vermögen von Ben Ali «und seiner Entourage» in der Schweiz vorsorglich blockieren zu lassen. Dieses Vorgehen ist zu begrüssen. Allerdings kommt es relativ spät. Die Gefahr besteht, dass zumindest die Gelder auf den hiesigen Bankkonten bereits umparkiert wurden – in ein anderes, «sichereres» Land.