Kommentar: Drinnen und draussen

Nr. 10 –

«Wirtschaftsflüchtlinge»: Mit dem Begriff werden MigrantInnen in asylwürdige und des Asyls unwürdige Menschen geschieden.


Meine Grosseltern und mein damals dreizehnjähriger Vater flüchteten im September 1968 aus der Tschechoslowakei in die Schweiz. Als sie an die Grenze kamen, winkte sie der Zöllner durch. Zwei Wochen lang durften sie daraufhin in einem Hotel am Rande der Schaffhauser Altstadt kostenlos übernachten und speisen. Schliesslich stellte ihnen die Swissair in Bachenbülach eine Wohnung samt Mobiliar zur Verfügung.

Noch am 20. August 1968 war mein Grossvater als Flugkapitän für die tschechoslowakische Fluggesellschaft nach Bulgarien geflogen. Einen Tag später waren die Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei einmarschiert. Der Prager Frühling fand ein brutales Ende. Mein Grossvater hatte damals umgehend den Entschluss gefasst, in die Schweiz auszuwandern. «Weisst du», sagte er mir einst, «ich wollte in ein Land, das frei und demokratisch war. Ein Land, das meiner Familie ein besseres Leben bieten konnte.»

Dieselben Forderungen – nach Freiheit, Demokratie und einem besseren Leben – sind heute aus Nordafrika zu hören. Und doch ist alles anders. Im Gegensatz zu 1968 sind die Türen für die Menschen aus dem Maghreb verriegelt. Die Aufstände in Tunesien und Ägypten waren – im Gegensatz zum Prager Frühling – bisher erfolgreich. Folglich werden die jetzigen Flüchtlinge nicht als Opfer totalitärer Regimes bewertet, sondern als Wirtschaftsflüchtlinge, die nur hierherkommen würden, um an unserem Reichtum und Wohlstand teilzuhaben. Als meine Grosseltern in die Schweiz kamen, war der Begriff «Wirtschaftsflüchtling» noch nicht gebräuchlich. Es steht jedoch fest, dass mein Grossvater nach heutigen Kriterien ein Wirtschaftsflüchtling gewesen wäre, denn politisch verfolgt oder gar gefoltert wurde er nicht. Trotzdem hatte niemand etwas auszusetzen, als er damals Asyl beantragte.

Natürlich war der historische Kontext vor vierzig Jahren ein ganz anderer: Die Welt war in zwei Blöcke geteilt, einen kapitalistischen und einen kommunistischen. Gut und Böse waren klar umrissen. In der heutigen, globalisierten Welt mit ihren nicht mehr so übersichtlichen Machtverhältnissen geht es immer weniger um Gut und Böse. Es geht vielmehr um drinnen und draussen.

Der Begriff «Wirtschaftsflüchtling», der von Schweizer Medien und PolitikerInnen seit den achtziger Jahren eingesetzt wird, ist ein sprachliches Mittel, um dieses Drinnen und Draussen zu definieren: Es gibt einige wenige echte, nämlich politisch verfolgte Flüchtlinge – der grosse Rest aber sind Wirtschaftsflüchtlinge. Und die müssen draussen bleiben.

EuropäerInnen müssten wissen, dass sie ihren Reichtum weniger einer stolzen demokratischen Tradition zu verdanken haben als der jahrhundertelangen, noch immer anhaltenden Ausbeutung des Südens. Für den Erhalt dieses Reichtums waren europäische Regierungen, die sich gerne als Verfechterinnen der Demokratie und der Menschenrechte inszenieren, bis zuletzt bereit, repressive und totalitäre Regimes in der arabischen Welt zu stützen und zu unterstützen. Europas Aussen- und Migrationspolitik gehorcht einer wirtschaftlichen Logik. Sie offenbart im aktuellen Umgang mit nordafrikanischen Flüchtlingen die zunehmende Verknüpfung von Fremdenfeindlichkeit und neoliberaler Wirtschaftspolitik.

Das zeigt sich bildhaft an der angesprochenen Unterscheidung zwischen «echten», politischen Flüchtlingen – und «Wirtschaftsflüchtlingen». Sie unterstellt, dass Politik und Wirtschaft zwei voneinander unabhängige Bereiche sind. Als ob das sozioökonomische Gefälle zwischen Nord und Süd naturgegeben wäre und nicht gerade den Zusammenhang von Politik und Ökonomie zeigte. Als ob die wirtschaftlich prekäre Lage und die damit zusammenhängende Perspektivlosigkeit in vielen Ländern des Südens allein Ausdruck der dortigen Unfähigkeit wäre und nichts zu tun hätte mit der Wirtschafts- und Schuldenpolitik des Nordens. Und als ob die Menschen, die sich zur Flucht entschliessen, nicht darunter leiden würden, ihre Heimat, ihre Familien und ihre FreundInnen zu verlassen.

Der Migrationsdruck auf Europa wird erst aufhören, wenn die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit zwischen Süd und Nord abgebaut wird. Stattdessen baut Europa lieber eine Festung auf.

Kürzlich fragte ich meinen Grossvater, ob er vielleicht auch ein Wirtschaftsflüchtling gewesen sei. Er antwortete: «Und wenn ich einer gewesen wäre? Ich sehe nichts Falsches darin.»