Wirtschaftskrise: «Wir lancieren eine europäische Bürgerinitiative»

Nr. 15 –

Gewerkschafter Vasco Pedrina hält den Soziallabbau in der Europäischen Union für dramatisch. Der Schweizer Vertreter beim Europäischen Gewerkschaftsbund kritisiert das Reduitdenken der Gewerkschaften und skizziert eine Idee, wie man wieder gemeinsam kämpfen könnte – dank Schweizer Methoden.


WOZ: Vasco Pedrina, nach Griechenland und Irland ist letzte Woche auch Portugal unter den Euro-Rettungsschirm geflüchtet. Im Gegenzug werden die Europäische Union (EU) und der Internationale Währungsfonds Portugal auf ein Sanierungsprogramm verpflichten. Wie wird es aussehen?

Vasco Pedrina: Noch ist nichts Konkretes bekannt. Doch wie im Fall von Griechenland und Irland wird es zu Lohnkürzungen um bis zu zwanzig Prozent kommen. Auch die Renten werden gesenkt. Mit dem Schlagwort der strukturellen Arbeitsmarktreform werden die Arbeitnehmerrechte infrage gestellt: In Griechenland haben Unternehmen neuerdings die Möglichkeit, Löhne unterhalb der in den Gesamtarbeitsverträgen ausgehandelten Saläre zu bezahlen. Hinzu kommt der Abbau des öffentlichen Dienstes: Der Staat soll massiv Stellen streichen.

Die Antwort auf die Krise heisst: Tiefere Löhne, weniger Staat ...

Das Ziel sollte der Abbau der Defizite und Schuldenlasten sein, das unterstützen auch wir. Doch die Frage ist, wie und in welchem Zeitraum dies getan wird. Das neoliberale Rezept ist doppelt falsch: Erstens liegt die Hauptursache der explodierenden Defizite und Staatsschulden in der Finanzkrise und nicht bei den Beschäftigten und ihren Löhnen. Irland war vor Ausbruch der Finanzkrise der neoliberale Musterknabe: keine Defizite, keine Schulden. Das Land ist durch die Rettung seiner Banken an den Rand des Bankrotts geraten. Zweitens löst die Rosskur die Probleme nicht. Die Defizite und Staatsschulden werden nicht reduziert. Nehmen Sie Griechenland: Dort ist man bereits beim dritten Sparprogramm. Doch da die Wirtschaft schrumpft, kann die Schuldenlast nicht reduziert werden.

Wie sieht die Alternative zu diesen Sparprogrammen aus?

Wir müssen auf ein qualitatives Wirtschaftswachstum setzen: mit Investitionen in die Infrastruktur und einem ökologischen Umbau. Diese könnten mit Euro-Obligationen finanziert werden: Die EU würde Privaten Anleihen verkaufen und mit dem Geld Investitionen in jenen Ländern tätigen, die in Schwierigkeiten sind. Zudem braucht es eine gerechtere Verteilung der Lasten zwischen den Ländern. Deutschland hat bisher stark profitiert.

Was meinen Sie mit «profitiert»?

Deutschland hat eine extrem restriktive Lohnpolitik betrieben, um seine exportorientierte Wirtschaft auf Trab zu halten. Dadurch wurde die Binnennachfrage lahmgelegt, so konnten beispielsweise die Griechen ihre Landwirtschaftsprodukte nicht mehr nach Deutschland exportieren. Um diese Ungleichgewichte zu bekämpfen, müssen die deutschen Löhne wieder steigen. Schliesslich braucht Europa eine Koordinierung der Steuerpolitik: die Einführung einer Finanztransaktionssteuer – damit auch die Spekulanten zur Kasse gebeten werden – sowie einer europäischen Steuer auf Unternehmensprofite. Macht Europa weiter wie bisher, wird es zu einer explosiven Stimmung kommen: Bereits jetzt gibt es überall Demonstrationen gegen Sparprogramme. Hinzu kommt der Rechtspopulismus, der sich ausbreitet.

Der Angriff auf soziale Errungenschaften begann in der EU nicht erst mit den Sparprogrammen, sondern mit Urteilen des Europäischen Gerichtshofes, mit denen er 2008 die Arbeitsrechte einschränkte. Wie schwer wiegen die Folgen?

Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg wurden die Arbeitnehmerrechte in Europa derart stark infrage gestellt. Der Europäische Gerichtshof hatte dabei eine Vorreiterrolle. Gemäss dem Urteil im Fall Laval etwa dürfen beim Bau einer Schule in Schweden lettische Löhne bezahlt werden. Die konkreten Folgen sind verheerend: Die Gewerkschaften wagen nicht mehr zu streiken, weil sie im Nachhinein mit Schadenersatzforderungen konfrontiert sein könnten. Die Regierungen passen derweil ihre Gesetze an die Urteile an.

Sie sind Vertreter des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) im Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB). Wie hat man dort auf die Entwicklung reagiert?

In einer ersten Reaktion haben die einzelnen Gewerkschaften versucht, innerhalb ihres Nationalstaates dagegen anzukämpfen. Wenn noch Kraft blieb, beteiligten sie sich an den europäischen Aktionen. Zurzeit ist eine Diskussion im Gang, wie es weitergehen soll. Die Mehrheit innerhalb der linken Bewegung ist pessimistisch. In ihren Augen ist die EU inzwischen ein degeneriertes neoliberales Projekt. Sie ziehen sich lieber nach dem Vorbild von General Henri Guisan ins nationale Reduit zurück, um an der heimischen Front die sozialen Errungenschaften zu retten. Dazu gesellen sich rechtspopulistische Kräfte, die in Richtung Nationalismus drängen. Derzeit erleben wir eine Renationalisierung der Gewerkschaftspolitik. Das entspricht dem allgemeinen gesellschaftlichen Trend.

Wann hat diese Renationalisierung eingesetzt? Nach der Finanzkrise?

Die achtziger Jahre unter EU-Kommissionspräsident Jacques Delors waren die des sozialdemokratischen Kompromisses. Die Zäsur kam mit seinem Abgang 1995 und der Machtübernahme der Bürgerlichen und New Labour in verschiedenen Ländern. Mit der Finanzkrise hat sich die Lage verschärft.

Die grossen Konzerne und europäischen Wirtschaftsverbände sitzen längst in Brüssel, haben rund 20 000 Lobbyisten angestellt. Können die Gewerkschaften auf nationalstaatlicher Ebene überhaupt noch etwas ausrichten?

Eben nicht! Wir vom SGB gehören deshalb zum linken Flügel der Optimisten. Wie der italienische Philosoph Antonio Gramsci sagte: Die Vernunft zwingt uns zu einer pessimistischen Analyse, doch unser Wille verleitet uns zum Optimismus. Wir haben uns deshalb entschlossen, eine aktive Rolle innerhalb des EGB zu spielen. Die Situation ist dramatisch, und die Zeit drängt. Es braucht eine Europäisierung der Konflikte.

Was wollen Sie konkret tun?

Wir treiben derzeit eine Kampagne für die Stärkung der Arbeitnehmerrechte voran. Dazu haben wir zwei Forderungen aufgestellt: Wir wollen erstens, dass im EU-Recht verankert wird, dass soziale Grundrechte vor den Binnenmarktfreiheiten kommen. Und zweitens, dass überall das Prinzip «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» gelten soll.

Und wie wollen Sie das erreichen?

Mit einer europäischen Bürgerinitiative, wie sie in der EU ab 2012 vorgesehen ist. Mit einer Million Unterschriften kann die EU-Kommission beauftragt werden, etwas in eine gewünschte Richtung zu unternehmen. Das Instrument geht nicht so weit wie die Schweizer Verfassungsinitiative. Man stimmt auch nicht darüber ab. Aber die EU-Kommission bekäme ein ernsthaftes Legitimationsproblem, wenn sie auf den Vorschlag nicht eingehen würde.

Und die Initiative ist bereits beschlossen?

Wir arbeiten seit eineinhalb Jahren daran. Für den Kongress in Athen vom 16. bis zum 19. Mai haben wir zusammen mit Travail Suisse einen Antrag eingereicht. In den nächsten Wochen wird sich zeigen, ob es uns gelingt, eine Mehrheit innerhalb der europäischen Gewerkschaften hinter uns zu bringen.

Wer sind Ihre Kritiker, wer die Verbündeten?

Die Kritiker sind etwa die nordischen Bünde, die es lieber haben, wenn sich die EU nicht einmischt. Zu jenen, die noch schwanken, gehören unter anderem die Belgier und Franzosen, die uns sagen, Unterschriften sammeln gehöre nicht zu ihrer Tradition; sie würden lieber streiken. Sie alle unterschätzen das Potenzial solcher direktdemokratischer Mittel für die Mobilisierung der eigenen Basis in den Betrieben. Entscheidend wird sein, dass es uns gelingt, grosse Bünde wie den Deutschen Gewerkschaftsbund zu gewinnen. Ein wichtiger erster Schritt ist bereits getan: Der Chef von Verdi und UNI-Europe, Franz Bsirske, kämpft inzwischen an unserer Seite.

Wie reagieren Ihre Kollegen darauf, dass ausgerechnet der Gewerkschaftsbund des Nicht-EU-Mitglieds Schweiz so forsch auftritt?

Natürlich hat das eine gewisse Brisanz. Aber wir werden für unsere Gewerkschaftspolitik, unsere Erfahrung mit direktdemokratischen Mitteln und unsere Fähigkeit, mit verschiedenen Sprachen und Kulturen umzugehen, geachtet.

Wenn die Initiative in Athen beschlossen würde: Was könnten die GewerkschafterInnen in der Schweiz beitragen? Unterschriften sammeln können sie ja nicht.

In der Schweiz leben an die 900 000 EU-Bürger. Wir haben bereits angeboten, unter den Deutschen, Portugiesen, Italienern zu sammeln.