Kommentar: Ein wenig Morgenröte

Nr. 21 –

Der Menschenstrom gegen Atom hat uns ermutigt. Doch wie geht es jetzt weiter?


Die grösste Anti-AKW-Demonstration in der Schweiz seit 1986: 20000 Menschen beim Menschenstrom gegen Atom vom vergangenen Sonntag waren ein beeindruckender Erfolg.

Auf einem Feld zwischen Leuggern und Kleindöttingen, zwischen Beznau und Leibstadt, fanden sich Angehörige einer breiten Koalition ein. Den Kern bildeten altgediente AKW-GegnerInnen, junge Grüne und mittelständische SP-WählerInnen. Aber die Spannweite reichte vom wie immer gut organisierten Revolutionären Aufbau samt Kindersirup bis zu vereinzelten grünliberalen Plakaten.

Anders als bei sozialen Protesten waren die Gewerkschaften zu wenig vertreten, obwohl sich die gewerkschaftseigene Zeitung «work» flächendeckend mit einer lesenswerten Sonderausgabe hervortat. Dagegen war die Verbindung mit der Welschschweiz ebenso sichtbar wie die zu Süddeutschland. Viele Familien mit Kleinkindern machten sich in den Aargau auf: Die Generation zwischen dreissig und fünfundvierzig, bei politischen Protesten zumeist abwesend, scheint sich auf den Marsch gemacht zu haben. Ökologie mobilisiert neue Schichten.

Grundsätzlich war es richtig, den Anlass im Aargau durchzuführen und nicht auf dem Bundes-, dem Münster- oder dem Paradeplatz. So wurde das Etikett des rein Urbanen abgestreift, das der Bewegung zuweilen angehängt wird. Zugleich wurde der Menschenstrom zur notwendigen Ermutigung für die bedrängte Anti-AKW-Bewegung im Atomkanton Aargau.

Der Zug ins idyllische Niemandsland wirft aber auch Fragen auf. Die direkte Sichtbarkeit, die Konfrontation mit anderen Meinungen, fehlte. Aussenwirkung wurde allein durch die mediale Vermittlung erreicht. Ohne die gehts heute natürlich nicht mehr, und im gegenwärtigen Zeitpunkt kann die Bewegung noch auf einige kalkulierte Sympathien in den Medien zählen; aber sie sollte sich nicht vollständig davon abhängig machen. Als Mobilisierungsinstrument nicht zu unterschätzen: Das alte Logo «Atomkraft? Nein danke» hat eine überraschende Frische gezeigt. Vom Design her mit der freundlichen Sonne etwas altertümlich, wirkt es weiterhin, eingängig und verständlich.

Die Menschen, die durch den Aargau spazierten, verband nicht eine dumpfe Angst, die demagogisch instrumentalisiert werden kann, sondern eine Sorge wegen einer potenziell tödlichen Bedrohung. Sie sind nicht in diffuser Wut miteinander verbunden, sondern in einem klar gerichteten Zorn. Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, gegen die sie sich wenden, haben Name und Anschrift. Den AKW-GegnerInnen wird immer wieder vorgeworfen, sie seien zu emotional. Aber da wird ein falscher Gegensatz aufgebaut. In Fukushima haben die Betreiber die drei Kernschmelzen erst kürzlich zugegeben – und sie behaupten noch immer, sie hätten alles unter Kontrolle. Ein Versagen oder Unterdrücken der Vorstellungskraft ist auch eine Emotion. So wie der irrationale Glaube an die vermeintliche Sicherheit von Risikoberechnungen.

Der Bundesratsentscheid dieser Woche ist ein erstes Indiz, wie die PolitikerInnen zu reagieren gedenken: mit beschränktem Entgegenkommen. Ob die politische Wende, die für Doris Leuthard vorsorglich behauptet worden ist, nur eine Nebelpetarde für den begonnenen Wahlkampf darstellt, wird sich weisen.

Wie geht es weiter? Die Anti-AKW-Bewegung ist ein klassisches Beispiel für eine Bewegung, die breit, auf verschiedenen Ebenen aktiv werden kann. Sie hat eine klare Forderung, und sie hat einsichtige Ziele. Gerade deshalb kann sie vielfältige Kampfmittel nutzen: von der publizistischen Aufklärung über die politische Lobbyarbeit bis hin zur direkten Mobilisierung, national wie lokal. An Gemeindeversammlungen lässt sich eine atomstromfreie Versorgung fordern. In den öffentlich-rechtlich verfassten Stromkonzernen kann Mitwirkung geltend gemacht werden. Man kann aber auch die Atomstromproduzenten belagern.

Die Argumente für einen Atomausstieg sind längst vorhanden, wenn auch übers Tempo des Ausstiegs noch keine Einigkeit besteht. Auch nicht über den weiteren Weg: bloss ein beschränkter Umstieg auf erneuerbare Energien oder ein Umstieg, verknüpft mit einer Reduktion des Energieverbrauchs und einem Konsumverzicht? Der Erfolg der technokratisch und marktwirtschaftlich argumentierenden Grünliberalen bei den jüngsten Kantonalwahlen zeigt, dass hier noch einiges zu klären ist. Der Menschenstrom aber hat die ersten kräftigen Schritte gemacht.