Türkei: Offene Türen täuschen

Nr. 24 –

Das Museumsgefängnis Ulucanlar in Ankara soll zum Ort der türkischen Geschichtsaufarbeitung werden. In erster Linie ist es allerdings ein Symbol für die zweigesichtige Politik der Regierungspartei AKP.


«Das war jetzt Hollywood», sagt der Schriftsteller Ahmet Kardam nach der Führung. Er war zweimal im ehemaligen Gefängnis Ulucanlar inhaftiert, in Ankaras ältestem Stadtteil Altindag. Im Mai begleitete er nun eine JournalistInnengruppe durch das zum Museum umfunktionierte Gebäude, das Staatsgründer Kemal Atatürk 1925 nach den Entwürfen des Berliner Architekten Carl Christoph Lörcher erbauen liess – ein klassizistisch orientierter Zweckbau mit leicht osmanischer Anmutung. Es gibt äusserlich hässlichere Gefängnisse.

Oppositionelle aller politischer Couleur wurden hier inhaftiert – darunter viele Künstlerinnen und Intellektuelle. Auch der bekannteste türkische Dichter Nazim Hikmet (1902–1962) war einst hier eingesperrt. Und Ahmet Kardam, der 1968 und 1989 wegen «kommunistischer Propaganda» und seiner Mitgliedschaft in der Türkischen Kommunistischen Partei einsass, ist in der heutigen intellektuellen Landschaft des Landes längst nicht der einzige Ex-Ulucanlar-Insasse.

Die Schuld liegt beim Militär

2006 wurde das Folter- und Hinrichtungsgefängnis wegen Baufälligkeit und Platzmangels geschlossen. Die Häftlinge verlegte man in modernere Gefängnisse. Vor zwei Jahren bekam die Gemeindeverwaltung von Altindag grünes Licht für die Musealisierung. Es ist das erste Geschichtsaufbereitungs-Objekt dieser Art in der Türkei. Ein Zeichen für den politischen Reformwillen? Für eine Besserung der Menschenrechtslage gar?

Es dürfte wohl eher ein Feigenblatt sein. Und das liegt nicht an dem eher naiv-romantischen Restaurierungskonzept, das für das «Hollywood»-Gefühl sorgt. So wurde das Gefängnis in den Zustand von 1925 zurückversetzt, einschliesslich Übertünchung aller Zwischenzustände. Illustriert wird der Gefängnisalltag auf Infotafeln und durch lebensechte Wachsfiguren, die melancholisch auf ihren Pritschen oder in Grüppchen beim Lautespielen sitzen, dazu bunte Blumendecken und Geschirr. Beinahe schön muss man diese folkloristischen Elemente finden, verstärkt durch den Gesang, der überall aus den Lautsprechern tönt. «Lieder über den Gefängnisalltag», erläutert der Kulturbeauftragte des Stadtteils, der von der islamisch-konservativen Regierungspartei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) regiert wird.

Dennoch nimmt man ihm den Willen zur Aufarbeitung ab. In einer Tabugesellschaft muss Aufklärung vielleicht mit Schonkost beginnen. Auch das Kulturministerium der AKP-Landesregierung unterstützte das Projekt. Und das hat seinen Grund: Denn für die Gräueltaten im Gefängnis Ulucanlar müssen vor allem die Militärregierungen in der Geschichte der Türkischen Republik zur Verantwortung gezogen werden. Und das kann der auf Konfrontationskurs mit dem putschverdächtigen Militär stehenden AKP nicht unrecht sein.

Scheindemokratisches Gebaren

Das Vorzeigeprojekt steht aber auch generell für die zweigesichtige Politik der Regierungspartei. Die Kurdenpolitik kann dieses Prinzip illustrieren: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan findet inzwischen, die Türkei habe kein «kurdisches Problem» mehr. Immerhin gibt es mittlerweile einen kurdischsprachigen Fernsehsender, und im April 2011 eröffnete in Istanbul das erste kurdische Theater. Andererseits «sitzen derzeit an die 2500 kurdische Politiker in Haft», sagt Osman Baydemir, der international für seine unabhängige Politik bekannte Bürgermeister der überwiegend kurdischen Millionenstadt Diyarbakir im Südosten der Türkei. Mehrere Verfahren laufen gegen Baydemir, er darf das Land nicht mehr verlassen. Als einen der Anklagegründe nennt er: Seine Website erscheine nicht nur auf Türkisch und Englisch, sondern auch auf Kurdisch. Dazu berichten LehrerInnen von drakonischen Massnahmen gegen kurdische SchülerInnen, die von sogenannten «Vertrauenslehrern» aufgelistet werden, wenn sie beispielsweise in der Schule nicht die türkische Nationalhymne mitsingen. Zur Abschreckung wurden Schüler auch schon kurzzeitig inhaftiert.

Erdogans AKP hat die türkischen Parlamentswahlen am vergangenen Wochenende aufgrund ihrer erfolgreichen Wirtschaftspolitik zum dritten Mal gewonnen (siehe unten: «Eine grosse Türkei oder eine demokratische?»). Das Machterhaltungssystem seiner Regierung führt aber mehr und mehr zu einem bedenklichen Umgang mit den Menschenrechten. Zwar hat der EU-Beitrittskandidat inzwischen die Todesstrafe und die systematische Folter abgeschafft; die Willkür unrechtmässiger Strafverfolgung gehört aber noch lange nicht der Vergangenheit an. Die offenen Türen Ulucanlars täuschen. Noch 2009 waren 60 000 Inhaftierte in der Türkei ohne Gerichtsurteil festgesetzt.

Dabei hat scheindemokratisches Gebaren inzwischen System bei der AKP. Haluk Ipek, der nationale Wahlkampfleiter, lächelt überlegen, während er im Pressegespräch betont: «Die Türkei hat sich an keinem einzigen Tag ihrer Geschichte eines Vergehens gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht.» Weit reicht der Wille zur Geschichtsaufarbeitung also nicht. Genauso überzeugt verkündet er, die Pressefreiheit in der Türkei sei höher zu bewerten als die in «Europa oder den USA». Zum Vergleich: Auf der Skala der Organisation Reporter ohne Grenzen liegt die Türkei in diesem Punkt auf Rang 138 (Stand 2010) – noch hinter dem Irak. Von dem inhaftierten Autor Ahmet Sik etwa will Ipek noch nie gehört haben. Die Debatte über dessen beschlagnahmtes Manuskript, das sich um die Verstrickung der Politik mit der Bewegung des Religionsführers Fethullah Gülen drehen soll, füllte wochenlang Zeitungen und soziale Netzwerke und drang auch nach Westeuropa.

Genau hinschauen kann helfen

Aktuell befinden sich bis zu siebzig weitere JournalistInnen in Haft, die Zahl der Verfahren wird auf mehrere Tausend geschätzt. Semra Pelek und Irfan Aktan etwa sind aufgrund der Veröffentlichung von Zitaten angeklagt. Die alte Garde der kemalistisch orientierten Justiz und die inzwischen mehr und mehr auf wichtigen Posten installierten regierungskonformen RichterInnen wetteifern geradezu um Prozesse. Ein Klima der Angst wird von allen von der WOZ befragten politischen AktivistInnen bestätigt. ProzessbeobachterInnen aus westlichen Ländern sind von Angeklagten sehnlichst erwünscht. Die EU wird bei weiteren Verhandlungen mit der Türkei näher hinschauen müssen, gerade auch bei der dort nun anstehenden Arbeit an einer neuen Verfassung.

Hinschauen hilft, das hat auch der Schriftsteller Ahmet Kardam während seiner Haftzeit erfahren. Trotz heftigster Haftbedingungen wurde er im engsten Sinne nicht gefoltert. Seinen Parteifreunden blieb dies zwei Jahre früher nicht erspart. «Weil es inzwischen sowohl in der Türkei wie auch in ganz Europa eine grosse Solidaritätskampagne für uns gab, konnte sich die Polizei eine solch harsche Praxis nicht mehr erlauben», beschreibt Kardam seinen Fall von 1989. Diese Solidarität brauchen auch die heute zu Unrecht Inhaftierten dringend.

Die offizielle Eröffnung des Ulucanlar-Museums ist für den 20. Juni geplant. Ursprünglich wollte Ministerpräsident Erdogan diese Aufgabe übernehmen. Inzwischen hat er abgesagt. Vielleicht erregt der Kontext Gefängnis zu viel unliebsame Aufmerksamkeit.

Nach den Parlamentswahlen

Eine grosse Türkei oder eine demokratische?

Der Rauch des Wahlkampfs und der Wahlnacht hat sich verzogen. Was bleibt? Für das Projekt «Neue Verfassung für die Türkei» braucht der grosse Wahlsieger Tayyip Erdogan – trotz seiner beachtlichen Mehrheit im Parlament (326 von 550 Sitzen ) – Stimmen aus dem Lager des politischen Gegners. Ein Kompromiss? In der Türkei ein schwieriges Kapitel. Alle Koalitionsregierungen endeten in der politischen Krise und vorgezogenen Neuwahlen.

Wo sollen die fehlenden Stimmen für eine neue Verfassung also herkommen? In der grössten Oppositionspartei der Türkei, der Republikanischen Volkspartei (CHP; 26 Prozent und 136 Sitze), hat schon einen Tag nach der Wahl erneut das Hauen und Stechen um den richtigen Kurs begonnen. Bleibt sie ein rückwärtsgewandter Verein, der auch mutmassliche Putschisten unterstützt, oder gelingt ihr der Aufbruch zur demokratischen Partei? Das ist noch vollkommen offen. Die rechtsgerichtete Partei der nationalen Bewegung (MHP) hat die Wahl verloren (13 Prozent und 53 Sitze). Sie ist mit ihren überholten Positionen des letzten Jahrhunderts nur der Bremser bei diesem Projekt.

Bleiben die unabhängigen Kandidaten der «Partei für Frieden und Demokratie» der Kurdenpartei (BDP). Um die 10-Prozent-Hürde zu umgehen, hatte die BDP sogenannte unabhängige Direktkandidaten aufgestellt – und konnte die Zahl ihrer Sitze von 20 auf 36 steigern. Sie ist die zweite grosse Siegerin dieser Wahl. Ein wichtiger Grund: Die BDP hat sich geöffnet und ihre eindimensionale Rolle als politischer Arm der PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans ein Stück weit aufgegeben und auch KünstlerInnen, islamisch-konservative Kandidatinnen und Vertreter anderer Minderheiten unterstützt.

Die BDP will die Abschaffung der 10-Prozent-Hürde, Kurdisch auch in den Schulen und in der Staatsverwaltung sowie mehr Rechte für Stadtverwaltungen und die Regionen. Bisher schien eine Verständigung darüber auch mit der AKP ausgeschlossen. Ob das Projekt «neue Verfassung» gelingt, ist also noch offen.

Dass Erdogan die Mitgliedschaft in der Europäischen Union nicht aufgeben will, hat er bereits in einer Strukturreform des Kabinetts deutlich gemacht. Es wird ein Ministerium geben, das nur für die Verhandlungen mit der EU zuständig ist.