Zürcher Landsgemeinde: «Hochverehrte, liebe Mitlandsleute»

Nr. 31 –

Am 1. August fand die erste Zürcher Landsgemeinde statt. Die Forderungen reichten vom Pingpongtisch bis zum Grundeinkommen. Die Idee der aktualisierten Demokratieform könnte zum Exportschlager werden.


Es ist 1. August in Zürich: Aus einer Quartierbeiz klingen Alphornklänge, das lokale Weltblatt räsoniert auf der aktuellen Titelseite über «Heimatliebe». Die Stadt spielt Land, wie überhaupt etwas viel Schweiz gespielt wird in diesen Tagen. Und jetzt laden auch noch die Linken zu einer Landsgemeinde. Auf die Rathausbrücke hat ein Traktor einen Anhänger gekarrt, verstaubte Schweizerfahnen hängen an der Sonne.

Die Landsgemeinde: Entstanden aus den Gerichtstagen der Vögte, gilt sie als vormoderne Form der Demokratie. Stimmfähig waren nur die Männer, die sich freikaufen konnten. Eine Gewaltenteilung gab es nicht. Bis heute hat sich die Landsgemeinde nur in Appenzell Innerrhoden und Glarus erhalten. Dort allerdings mit innovativer Sprengkraft (Stimmrechtsalter sechzehn, Gemeindefusion – dieses Jahr scheiterte die Abschaffung der Pauschalbesteuerung knapp).

«Hochverehrte, liebe Mitlandsleute», tönt es vom Anhänger. Eine Organisatorin richtet sich an die über 300 Anwesenden. «Feuerwerk und Fahnen sind nicht alles. Wir brauchen mehr Demokratie! Die Verfahrensdemokratie ist erstarrt. Demokratie muss hier und jetzt stattfinden, unabhängig von Geld, Alter und Pass. Feiern wir sie als Kunst der lebendigen Auseinandersetzung!»

Aus dem Spiel wird Ernst

Die Diskussion läuft schon seit Wochen: Auf einer Website konnten Vorschläge eingereicht und bewertet werden. Mehr als fünfzig sind es: In der Zürcher Bäckeranlage sollen wieder Pingpongtische aufgestellt werden. Biel/Bienne könnte die zweisprachige Hauptstadt der Schweiz sein. Ein Tribunal über die «grossen Fische» der Wirtschaftskriminalität wird gefordert. Die VeganerInnen zeigen sich am unerbittlichsten: Ihre Forderung nach der Abschaffung der Nutztierhaltung zählt mehr als 150 Kommentare.

Organisiert hat die Landsgemeinde eine Gruppe, die sich schlicht «Versammlung» nennt: Zwanzig bis dreissig Berufstätige und StudentInnen, vor allem aus der Philosophie, haben sich nach den Abstimmungen über die Minarett- und Ausschaffungsinitiative getroffen, um über die Demokratiekrise zu reden. Gerade auch übers fehlende AusländerInnenstimmrecht.

Die zehn Vorschläge, die online am meisten Stimmen machten, werden jetzt vorgestellt. Über die vier besten soll im Anschluss diskutiert und abgestimmt werden. Simone Vollenweider tritt ans Mikrofon: «Ich habe meinen Vorschlag einfach gepostet. Jetzt freut es mich, hier zu stehen.» Ihre Forderung heisst: «Licht aus!» Die Geschäfte sollen ihre Schaufenster in der Nacht nicht mehr beleuchten. Adriano Mannino: «Wir sind die komischen Veganer mit dem Extremvorschlag. Aber was ist extrem? Die Nutztierhaltung ist klimaschädlicher als der Verkehr.» Die Initianten eines Bürgerrechts zeigen mit Kartonschildern, wie viele Personen bei einer Abstimmung den sogenannten Volkswillen darstellen: Es sind, abzüglich der AusländerInnen, der Ferngebliebenen und der Unterlegenen, lediglich achtzehn Prozent aller EinwohnerInnen.

Über jeden Vorschlag wird abgestimmt – wer ist dafür, wer dagegen, wer enthält sich. Die rosa Stimmzettel schnellen in die Höhe, wie an den bekannten Landsgemeinden. «Es reicht eigentlich, im Moment nur die Ja-Stimmen zu zählen», meint der Moderator irgendwann. «Wir erzielen demokratische Fortschritte.»

Die Resultate werden erst am Schluss bekanntgegeben. Rang 1: Bedingungsloses Grundeinkommen. 2: Verpflichtung der Schweizer Unternehmen zur Einhaltung der Menschenrechte weltweit. 3: Vollgeldreform. 4: Kein Polizei- und Justizzentrum auf dem Zürcher Güterbahnhof. Aus der Diskussion gefallen: 5: Licht aus! 6: Grand Café statt Apotheke im Odeon – gegen die Medikation der Gesellschaft. 7: Bürgerrecht für alle. 8: Abschaffung der Nutztierhaltung. 9: Hauptbahnhof werbefrei. Der zehnte Vorschlag wurde nicht diskutiert, weil der Initiant krank war.

Die Reihenfolge zeigt: Die ZürcherInnen sind an den grossen Fragen interessiert. Hier deshalb eine kurze Unterbrechung und ein Gespräch mit einem der Unterlegenen: Christian Hänggi hatte die bescheidene, subversive Idee, dass im Hauptbahnhof alle Plakatwände und Leuchtreklamen entfernt werden. «Damit die Bausubstanz wieder sichtbar wird.» Aber auch, weil die SBB, die dem Bund und damit allen gehört, und die Allgemeine Plakatgesellschaft (APG) ein Geschäft machen – ohne dass jemand gefragt werde, ob er dauernd von Werbung berieselt werden will. «Und wer kann sich die teuren Plätze leisten?», fragt Hänggi. «Die SVP.» Hänggi ist Präsident der IG Plakat, Raum, Gesellschaft. Die Landsgemeinde bringt die Entdeckung von unbekannten Politgruppen.

Überhaupt, sie wird immer besser. Auf der Brücke über dem Fluss findet eine leichte Verschiebung statt, aus dem Spiel wird Ernst. Höhepunkt ist die Debatte über das Grundeinkommen. Initiant Amadeus Thiemann: «Es ermöglicht die Frage nach dem Sinn des Lebens. Die Lebensstelle ist eine Illusion – der Drang zur Schaffung nach immer mehr und sinnlosen Arbeitsplätzen führt zur sozialen Ausbeutung und zu Depressionen.» Zahlreiche KritikerInnen melden sich: «Den Sinn des Lebens kann man im Grossmünster suchen. Es ist anmassend, zu sagen, eine Arbeit sei sinnvoll und eine andere sinnlos. Und überhaupt, wer soll das bezahlen?» – «Ich arbeite im Sozialbereich. Es stimmt nicht, dass man weniger depressiv wird, nur wenn der finanzielle Druck wegfällt.» – «Ein Grundeinkommen wäre staatlich subventioniertes Lohndumping. Man muss die Unternehmen mit Mindestlöhnen in die Pflicht nehmen.» – «Zentral ist die Gerechtigkeit. Jeder Mensch ist gleich viel wert. Das erreicht man mit Umverteilung: Erbschaftssteuer rauf auf hundert Prozent!» – «Es muss uns wieder klar werden, dass der Mehrwert nicht vom Kapital erzielt wird, sondern von den Beschäftigten. Das Grundeinkommen tastet diese Frage nicht an.» Trotzdem: Wie den anderen drei Forderungen stimmt die Landsgemeinde auch dem Grundeinkommen deutlich zu.

«Hier hat Politik stattgefunden»

Nach zwei Stunden Debatte sind positive Stimmen zu hören: Als «Mischung aus Sachlichkeit und Emotionalität» beschreibt ein älterer Teilnehmer die Landsgemeinde. Drei junge Frauen fanden den Prozess spannend: «Plötzlich merkte man, wie stark man von den Leuten nebenan beeinflusst wird.»

Vesna Tomse hat gegen den Polizeipalast gesprochen. Sie freut sich darüber , dass das Anliegen nun einer breiteren Bevölkerung bekannt ist. «Ein idealer Auftakt für die Abstimmung am 4. September.» Ist eine solche Landsgemeinde nicht eine unnütze Parallelveranstaltung – würden die Leute sich nicht besser in der richtigen Politik engagieren? Tomse: «Aber hier hat doch gerade Politik stattgefunden.»

Auch die OrganisatorInnen sind zufrieden: «Wir waren überrascht von den vielen Vorschlägen», sagt Hanna Gerig. «Dass sie vornehmlich aus dem linken Spektrum kamen, erklären wir uns damit, dass die Idee für eine Landsgemeinde dort entstanden ist. Sie möchte den Anlass gerne wiederholen. «Es wäre schön, jeden 1. August über die Demokratie zu reden.» Auch einen Export der Idee in andere Städte, etwa nach Basel, kann sie sich vorstellen.

Nur eine Frage noch: Warum schnitt das Bürgerrecht für alle schlecht ab? Die rechten Verkehrungen scheinen in den linken Köpfen angekommen: Unter den TeilnehmerInnen ist zu hören, das sei ein «heikles Thema», die «grösste Utopie». Auf dem Heimweg war die Halle des Hauptbahnhofs in rotes Licht getaucht. Es war einer jener Sonnenuntergänge, wie man sie nur über der Zürcher Schienenmündung erlebt. Vorne am Perron leuchteten zwei Plakate: «Masseneinwanderung stoppen». Und: «Schweizer wählen SVP».