Atomausstieg: Die Halbwertszeit des Schreckens

Nr. 36 –


Jede Wurst, jede Tomatenbüchse, jede Senftube trägt in den Verkaufsregalen ein Verfallsdatum. Dinge verderben, nur wissen wir nicht, wann, und behelfen uns mit Verfallsdaten. Eine kluge Erfindung, die das Leben sicherer macht.

Atomkraftwerke kennen kein Verfallsdatum. Mindestens nicht diejenigen, die in der Schweiz in Betrieb sind. Zwar wird zurzeit viel vom Atomausstieg gesprochen. Der Nationalrat will ihn angeblich. Die vorberatende Kommission des Ständerats will ihn halb, weil sie nur Atomkraftwerke «der heutigen Generation» verbieten möchte. Die grünliberale Zürcher Ständerätin Verena Diener, die selber der Kommission angehört, findet das nicht so schlimm und sagt, man wolle ja nur «ein Spältli» offenhalten. SP-Fraktionspräsidentin Ursula Wyss pflichtet bei und sagt fröhlich in die Kamera: «Wesentlich ist, dass jetzt aus der Atomtechnologie ausgestiegen wird.»

Der Vorschlag dürfte im Ständerat und später auch im Nationalrat durchkommen. Viele werden glauben, wir hätten den Atomausstieg – vielleicht ein bisschen verwässert, aber immerhin. Irrtum. Wir haben nichts. Weil eben Schweizer AKWs kein Verfallsdatum haben. Ohne Verfallsdatum dürfen sie am Netz bleiben, solange ihre Sicherheit gewährleistet ist. Nur lässt sich das schwer festmachen, weil man erst sicher weiss, dass etwas nicht mehr sicher war, wenn es kaputt ist. Wie bei der Wurst, die man nach diesem Prinzip so lange im Regal liesse, bis sie nachweislich verdorben wäre. Das wäre ein umweltfreundlicher Akt, müsste man doch viel weniger Lebensmittel entsorgen, die noch bekömmlich sind. Menschenfreundlich wäre es nicht, denn Lebensmittelvergiftungen sind fatal. Kernschmelzen auch.

In Deutschland hat man den Ausstieg, weil jedes Atomkraftwerk eine klar definierte Laufzeitbeschränkung hat. Das ist gut, denn so kann man sich vernünftig auf die Zeit danach vorbereiten.

Einen solchen Ausstieg bräuchte die Schweiz. Den bekommt sie aber nur mit der Initiative «Für den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie», die vorschreibt, dass nach 45 Jahren jedes AKW vom Netz muss.

Dann wäre da noch Verena Dieners «Spältli», das der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse als «weitsichtigen Entscheid» lobt. Das Spältli hat etwas Perfides: Denn was heisst «AKW der heutigen Generation»?

In der Schweiz sind Reaktoren der sogenannt zweiten Generation in Betrieb – eine Technologie, die aus dem letzten Jahrtausend stammt. Die neuen Reaktoren, die in Finnland und Frankreich gebaut werden, gehören zur dritten Generation. Es sind modifizierte Modelle der zweiten Generation. Bei diesen Neubauten sieht man, wie schwierig es ist, ein altes Modell auf neuer zu trimmen – der Bau wird viel teurer als geplant, und die Sicherheit ist höchst umstritten.

Bürgerliche PolitikerInnen schwärmen zurzeit von der sogenannten vierten Generation. Das Generation IV International Forum (GIF), dem auch die Schweiz angehört, widmet sich dieser Generation. Allerdings verfolgt das GIF Reaktorkonzepte, an denen nicht viel Neues ist. Die Konzepte wurden schon in den fünfziger Jahren entwickelt, sie haben sich aber nie durchgesetzt, weil sie zum Teil schier unlösbare Sicherheitsprobleme mit sich bringen, wie zum Beispiel die Brütertechnologie: Der Superphénix, der Schnelle Brüter von Frankreich, verschlang Milliarden, bevor er stillgelegt wurde; in Japan stand der Brutreaktor Monju nach einem Brand jahrelang still. Andere Alternativen wie der Thoriumreaktor werden kaum je wirtschaftlich sein. Ob sie sicher sein könnten, weiss heute kein Mensch. Und Atomabfall werden auch sie produzieren.

Die angeblich neuen Reaktoren basieren auf alten Ideen, die niemand weiterverfolgt hat, weil es zu gefährlich oder nicht wirtschaftlich war.

Durch das Spältli könnte aber die dritte Generation wieder ins Spiel gebracht werden. Und dann wären wir wieder am Punkt null, dort, wo wir vor dem 11. März 2011 waren – nur ein halbes Jahr nach den drei Super-GAUs in Fukushima. Die Halbwertszeit des Schreckens ist wirklich überraschend kurz.