Porträt: Räume kann man verändern
Seit bald zehn Jahren lebt die Theaterpädagogin Christin auf dem Zürcher Labitzke-Areal. BesetzerInnen haben dort seit zwei Monaten ein Kulturzentrum auf Zeit geschaffen.
«Es geht um die Sache heut, ja?» Christin steht in der offenen Küche ihrer «Arbeits- und Lebensstätte», wie sie das nennt. Ein grosser Raum, in dem gekocht, gearbeitet, gelesen und gequatscht wird. Auf dem Herd brodelt es in zwei grossen Töpfen.
Christin kommt soeben von einem dreistündigen Spaziergang durch ihre Nachbarschaft zurück. Mit der «Sache» meint sie diesen Stadtteil, das ehemalige Industriegebiet Zürich-West und somit auch das Areal, auf dem sie seit über neun Jahren lebt und arbeitet.
Vor gut zwanzig Jahren wurden hier noch Lack und Farbe produziert. Die Labitzke Farben AG hatte auf diesem Gelände ihre Fabrik. Anfang der neunziger Jahre wurde der Betrieb eingestellt und das Areal an Fredy Schönholzer, einen bekannten Immobilienhändler des Zürcher Rotlichtmilieus, verkauft. Club- und Bordellbetreiber, Handwerkerinnen, ein Pneuhändler, Künstlerinnen, MigrantInnenvereine, Wohngemeinschaften und eine Moschee zogen in die alten Fabrikbauten. «Allen Mietparteien gemeinsam war der niedrige Anspruch an die Infrastruktur – oder die Tatsache, dass sie in der Innenstadt keine Räume fanden, die sie bezahlen konnten», erzählt Christin.
Alles gezimmert
2002 zog sie von Basel nach Zürich, um hier die Schauspielschule zu besuchen. «Dass ich auf diesem Areal einen Ort zum Leben und Arbeiten fand, war reines Glück.» In einem der Gebäuderiegel der alten Fabrik richtete sich die damals 22-Jährige zusammen mit acht weiteren Personen ein. Rund 260 Quadratmeter standen ihnen zur Verfügung – ausser Wasseranschluss und einem WC gab es hier nichts. Die neuen BewohnerInnen zimmerten Arbeitsnischen und Schlafräume, Hochbetten mit eingebauten Kleiderschränken, eine offene Küche und eine Dusche. «Die Privaträume hielten wir so klein wie möglich, um dem Gemeinschaftsraum umso mehr Platz zu geben», erzählt Christin. «Klar, das war viel Arbeit. Dafür konnten wir unseren Lebensraum selber gestalten.» In ihrem Job als Theaterpädagogin gehe es ihr eigentlich um dasselbe: «Mit anderen Leuten entwickle ich Ideen, wie man aktiv in einen Prozess eingreifen kann. Es geht darum zu zeigen, dass man Geschichten und Räume verändern kann, ihnen also nicht einfach ausgeliefert ist.»
Deshalb setzt sich Christin seit einigen Wochen verstärkt für das Labitzke-Areal ein.
Anfang September wurden drei leer stehende Baracken der alten Farbenfabrik besetzt. Innerhalb weniger Tage entstand hier ein alternativer Kultur- und Begegnungsort: Eine grosse Küche mit Essraum und Café, ein Kino, eine Bar mit Konzertraum und ein Atelier für Flüchtlinge wurden hier geschaffen, dazu eine Skateranlage, eine Velowerkstatt, ein Proberaum für Bands und ein «Gratisladen» – eine Art Flohmarkt, wo nicht mit Geld, sondern höchstens mit eigener alter Ware bezahlt wird. «Autonomer Beauty-Salon» heisst der neue Ort – in Anspielung auf den alten «Auto-Beauty-Salon» vis-à-vis, von dem bloss noch das morsche Gerüst zu sehen ist.
Christin freute sich über die neuen NachbarInnen: «Die Besetzung warf erneut die Frage auf, was mit diesem Areal und diesem Stadtteil geschieht.»
Mieten ab 3000 Franken
Zu Beginn dieses Jahres übernahm die Mobimo Holding AG Schönholzers Firma, der das Areal gehörte. Die Mobimo zählt zu den grössten Immobilienfirmen der Schweiz und ist bekannt für ihre Luxusresidenzen. Auf dem Labitzke-Areal will sie etwa 300 Mietwohnungen bauen. «Diese sind garantiert nicht für die jetzigen Mieter bestimmt», meint Christin. Die Mieten werden laut Mobimo «im mittleren Preissegment» liegen. «Was das bedeutet, sehen wir ja nebenan», sagt Christin. In der «Connect»-Überbauung, einem Büro- und Wohnkomplex aus Glas und Beton hinter dem Areal, kosten 95 Quadratmeter Wohnraum knapp 3000 Franken im Monat. «Mit einem Jahreseinkommen von 18 000 Franken kann ich mir das schlicht nicht leisten.»
Um in dieser Geschichte nicht die Rolle der Statistin einzunehmen, organisierte Christin zusammen mit den BesetzerInnen und AktivistInnen der Plattform «stadt.labor» einen Stadtrundgang durch Zürich-West. Dies war eine von diversen Veranstaltungen, für die der Autonome Beauty-Salon unter dem Titel «Das Recht auf die Stadt» am Wochenende nach Altstetten lud – die Veranstaltungen wurden von über 200 Leuten besucht.
Was ihr «Recht auf die Stadt» bedeute? «Dass ich mich nicht der Marktlogik unterwerfen muss, dass ich innerhalb dieser Stadt mein Leben gestalten kann, wie ich will», sagt Christin, packt ihren Tabak und steht auf. «So, jetzt muss ich was essen.»
Die Töpfe aus ihrer Küche stehen mittlerweile in der «Volxküche» des Autonomen Beauty-Salons. Dort verköstigen sich die BesucherInnen der Veranstaltungen mit Seitanplätzchen, Salat und Suppe. Wer kann, zahlt etwas in die Blechbüchse, die in einer Ecke des Buffets steht.
«‹Recht auf die Stadt› bedeutet auch, dass es Freiräume gibt, die die Leute selber gestalten können», meint Christin, als sie sich ans Essen macht. «Und dass die Leute nicht aus solchen Freiräumen vertrieben werden, weil sie zu wenig Profit erzeugen.»