Novartis Nyon: «Im Betrieb duzen sich nun alle»
Die Novartis-Niederlassung in Nyon kann gerettet werden, sagen «les Novartis», die Angestellten des Basler Chemiegiganten in Nyon. Und sie beweisen es in einem Bericht an die Firmenspitze in Basel, an dem der ganze Betrieb mitgearbeitet hat. Yves Defferrard, Regionalsekretär der Unia, erklärt, wie es dazu gekommen ist.
WOZ: Novartis will die Niederlassung in Nyon schliessen – über 300 Arbeitsplätze würden gestrichen, nochmals so viele verlagert, 700 Menschen wären betroffen. Das letzte Wort ist allerdings noch nicht gesprochen: Ein Bericht der Beschäftigten beweist, dass die Schliessung vermeidbar ist.
Yves Defferrard: Unser Bericht ist das Resultat von Hunderten von Arbeitsstunden. Alle Mitarbeitenden, von der Kantinenköchin über den Concierge, von den Leuten in der Produktion über die InformatikerInnen bis zu den Verwaltungsangestellten und den Kadern, haben Vorschläge gemacht, wie die Arbeit besser und rentabler organisiert werden könnte. Die einzige Leitlinie dabei war: keine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen!
Der Bericht ist also ein Gemeinschaftswerk?
Ja. Die Novartis-Spitze hat amerikanische Experten bemüht, die beweisen, dass Nyon geschlossen werden muss. Unsere eigenen Experten, die Mitarbeitenden in Nyon, sagen das Gegenteil. Während zweier Wochen haben wir, das heisst eine Gruppe von betriebsinternen Experten, die Personalkommission und die Gewerkschaft Unia, pro Tag rund vier Stunden an dem Bericht gearbeitet. Dabei hat sich gezeigt, dass die im Betrieb vorhandenen Kenntnisse und Erfahrungen, wenn sie gebündelt werden, unglaublich produktive Vorschläge ergeben können.
Welche konkreten Vorschläge stehen in diesem Bericht?
Wir schlagen vor, einen wenig genutzten Teil des Areals zu verkaufen und ausgelagerte Produktionen wieder in den Betrieb zu integrieren. Mit einer besseren Organisation der Produktionsabläufe, mit Energiesparmassnahmen, Vorschlägen für eine bessere Rentabilisierung der Maschinen und für eine Verbesserung der Arbeitsleistungen durch Qualifizierung des Personals erreichen wir eine Summe von möglichen Einsparungen, deren Höhe den von Novartis beschlossenen Einsparungen entspricht.
Novartis hat den starken Franken als einen der Gründe für die Betriebsschliessung angegeben.
Das ist ein Vorwand. Es gibt in der Schweiz tatsächlich Betriebe, die unter dem starken Franken leiden. Vor allem, wenn sie ausschliesslich in der Schweiz produzieren und vollkommen exportorientiert sind. Das ist bei Novartis nicht der Fall. Was Novartis wegen des starken Frankens verliert, das sind, in der Sprache der amerikanischen Experten gesprochen, Peanuts.
Was ist der wahre Grund?
Novartis will eine weltweite Restrukturierung durchführen, die jährlich 200 Millionen Dollar Einsparungen bringt. Die amerikanischen Experten reden von einer Überkapazität. Und was ist die erprobte Methode aus dem Managerbüchlein, wenn bei einem multinationalen Konzern eine Überkapazität besteht? Man schliesst zwei, drei Niederlassungen, und die Sache ist gegessen.
Vor einiger Zeit wurden Produktionseinheiten aus dem Werk im baden-württembergischen Wehr nach Nyon verlagert. Weshalb soll nun Nyon geschlossen werden? Rechnete die Novartis-Direktion hier mit weniger Widerstand als in Wehr?
Wir haben darauf geachtet, nicht eine Niederlassung gegen eine andere auszuspielen. Aber es ist klar, dass Novartis nicht mit so viel Widerstand gerechnet hat – viele transnational tätigen Konzerne machen den Fehler zu glauben, in der Schweiz gebe es keine Arbeitskämpfe und keine Tradition des Widerstands.
Am 25. Oktober, als die Schliessung angekündigt wurde, hat die Direktion Sie als Unia-Regionalvertreter von der Betriebsversammlung ausgeschlossen. Damals haben Sie mit der Ausrufung eines Streiks geliebäugelt.
Ja, aber zum Glück haben wir das nicht gemacht. Wir hätten an diesem Tag vielleicht achtzig Leute mit uns gehabt. Drei Wochen später haben wir dann einen Tag lang gestreikt, weil die Direktion verlauten liess, der Schliessungsentscheid sei definitiv. Da hatten wir den ganzen Betrieb mit uns, und die ganze Bevölkerung hinter uns. Zwei Tage später fuhr CEO Joseph Jimenez aus Basel in Nyon vor.
In der Zwischenzeit waren Sie nicht untätig geblieben …
In der ersten Woche wurde an keinem einzigen Nachmittag gearbeitet. Wir hatten «Treffen mit den politischen Instanzen», was de facto auf Arbeitsniederlegungen hinauslief. Aber wenn wir es Streiks genannt hätten, hätte das damals eher abschreckend gewirkt. Uns war wichtig, die breitest mögliche Unterstützung zu organisieren. Und das ist ja auch gelungen.
Die Novartis-Spitze hat sich nach dem Streik bereit erklärt, Alternativen zur Schliessung zu prüfen. Welche Rolle spielt dabei die Unterstützung der Region für den Standort Nyon? Bei der Druckerei Swissprinters in St. Gallen, die ebenfalls geschlossen werden soll, fehlt gerade diese Unterstützung.
Es ist klar, dass Novartis darauf achten muss, ihr Image nicht zu beschädigen. Man kann nicht eine ganze Gegend vor den Kopf stossen, ohne dass sich das auf den Verkauf der Produkte auswirkt.
Vielerorts wird gesagt, der Schliessungsentscheid sei als politisches Signal gemeint gewesen. Der Bundesrat solle endlich aufhören, Druck auf die Medikamentenpreise auszuüben.
Der politische Aspekt der Sache ist wichtig. Ich bin gespannt, was Novartis im Gespräch mit der Waadtländer Regierung und mit Bundesrat Johann Schneider-Ammann für den Fall verlangt, dass Nyon nicht geschlossen wird. Aber ich bin überzeugt, dass unser Bericht die entscheidende Rolle spielen wird.
Wie hat sich die Arbeit an diesem Bericht auf das Betriebsklima ausgewirkt?
Es war eine enorm positive Erfahrung mit Betriebsdemokratie. Wir hatten ein gemeinsames Ziel. Jeder hat seine Ideen eingebracht, alle wurden ernst genommen. 700 Menschen haben miteinander gesprochen, manche das erste Mal in ihrem Leben. Nun duzen sich alle, im ganzen Betrieb. Aus dieser Erfahrung entsteht eine solche Energie, eine derartige Kraft, dass die Novartis-Direktion gar nicht anders konnte, als Verhandlungsbereitschaft zu signalisieren.
Sie sind, vom ursprünglichen Rausschmiss der Gewerkschaft aus der Betriebsversammlung bis heute, einen weiten Weg gegangen …
Ja wirklich. Ich muss sagen, dass wir in den letzten vierzehn Tagen unter ausgezeichneten Bedingungen arbeiten konnten. Die Direktion hat uns Zahlenmaterial und Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, sie hat die Teilnehmenden von der Arbeit freigestellt. Nun liegt es an der Novartis-Spitze, die Herausforderung anzunehmen: Worauf vertraut sie mehr – auf amerikanische Experten mit ihren ewig gleichen Rezepten oder auf die Intelligenz, das Wissen, die Erfahrung und die Motivation ihrer eigenen Arbeiter und Angestellten?
Bis wann erwarten Sie eine Antwort?
Bis Mitte Januar.
Yves Defferrard
Der 1966 geborene Yves Defferrard lernte zuerst Elektriker und bildete sich dann zum Informatiker weiter. Er erlebte verschiedene Betriebsrestrukturierungen, engagierte sich gegen Betriebsschliessungen und wechselte schliesslich in die gewerkschaftliche Arbeit.
Seit 1999 ist er Gewerkschaftssekretär der Unia Waadt. Defferrard spricht sich für eine gewerkschaftliche Strategie aus, die Flexibilität und Härte, Verhandlungen und Streiks kombiniert. «Das liegt vielleicht daran, dass schon mein Vater Gewerkschafter war, Bähnler. Und dass wir am Familientisch immer über solche Themen gesprochen haben. Über Widerstand und Solidarität und soziale Gerechtigkeit. Auf seinen Rat trat ich schon am ersten Arbeitstag der Gewerkschaft bei.»
Nachtrag von 19.1.2012: Sieg in Nyon
Novartis Nyon wird nicht geschlossen. «Ein historischer Sieg», sagt Unia-Sekretär Yves Defferrard, der mit den Angestellten von Novartis einen Rettungsplan erarbeitet hat. Tatsächlich sind die zwei Hauptforderungen der Belegschaft erfüllt: keine Entlassungen in Nyon, aber auch keine «Kollateralschäden» in anderen Werken. Wie fragte Defferrard im Interview mit der WOZ: «Worauf vertraut die Novartis-Spitze mehr, auf amerikanische Experten mit ihren ewig gleichen Rezepten oder auf die Intelligenz, das Wissen, die Erfahrung und die Motivation ihrer eigenen Arbeiter und Angestellten?»
Der Sieg gehört also den Arbeitenden und der Bevölkerung, deren Mobilisierung die Politik zur Einmischung in die «Freiheit» von Novartis zwang. Ein Sieg, der Opfer fordert: Die Arbeitszeit wird auf vierzig Stunden für alle festgelegt, was für die Hälfte der Angestellten zweieinhalb Stunden mehr Arbeit pro Woche bedeutet. Und alle verzichten auf einen Teil der vertraglichen Lohnerhöhungen. Der Chemiegigant erklärt sich zu Neuinvestitionen bereit, verspricht ein dauerhaftes Engagement in Nyon und erhält dafür Steuererleichterungen in unbekannter Höhe. Die Regierung sichert die Umzonung eines Teils des Firmengeländes in Bauland zu, mit unbekanntem Gewinnpotenzial für Novartis. Eine solche staatliche Intervention zur Rettung von Arbeitsplätzen ist nur dann sinnvoll, wenn sie auch für andere Firmen möglich ist. Dafür bräuchte es klare Kriterien, finanzielle Transparenz und Gegenleistungen – etwa ein Verbot von Entlassungen für Firmen, die schwarze Zahlen schreiben.
Helen Brügger