Transitverkehr: Tunnels verdunkeln die Verkehrspolitik
Der erste Tunnel durch den Gotthard brachte 1882 die Güter auf die Bahn. Der zweite verlagerte ab 1981 den wachsenden Gütertransport auf die Strasse zurück. Der dritte Gotthardtunnel, die Neat, soll die Transportlawine wieder auf die Bahn zurückleiten. Damit die Neat hält, was der Bundesrat versprach, stimmte das Volk 1994 der Alpen-Initiative zu. Laut diesem Verfassungsartikel muss der Gütertransit durch die Schweizer Alpen ab 2004 auf der Schiene erfolgen. Im Gesetz dehnten Regierung und Parlament den Begriff «Gütertransit», indem sie die Zahl aller Lastwagenfahrten durch die Schweizer Alpen ab 2018 auf jährlich 650 000 begrenzten. Letzte Woche teilte der Bundesrat mit, trotz Neat würden ab 2018 weiterhin doppelt so viele Lastwagen durch die Schweizer Alpen fahren, wie Gesetz und Verfassung erlauben. Erste Folgerung: Jeder neue Tunnel vermehrte den Gütertransit.
Mit dem Alter beginnen Tunnels zu bröckeln. Darum soll die Strassenröhre durch den Gotthard, die heute den Grossteil des gesetzwidrigen Gütertransits schluckt, zwischen 2020 und 2025 saniert werden. Das erfordert eine Sperrung während mindestens 600 Tagen. Womit der Transitverkehr wenigstens temporär auf die Schiene verlagert werden muss, wie das der Alpenschutzartikel seit 2004 befiehlt. Zweite Folgerung: Bröckelnder Beton beeinflusst den Verkehr stärker als Verfassung und Gesetz.
Doch EU, Strassenlobby und Tessiner Regierung wollen den alpenquerenden Verkehr weder bremsen noch auf die Bahn verlagern. Darum fordern sie seit Jahrzehnten eine zweite Strassenröhre – und mithin einen vierten Tunnel – durch den Gotthard. Die «zweite Röhre» sei nötig, um die erste störungsfrei sanieren zu können, lautet ihre neuste Begründung. Falls Bund und Parlament diese Forderung erfüllen, verletzen sie auch den zweiten Teil des Alpenschutzartikels. Denn dieser verbietet den Ausbau der Strassenkapazität im Alpenraum. Dritte Folgerung: Zu viele Tunnels verdunkeln den Blick auf eine verfassungskonforme Verkehrspolitik.