Gotthard: Ein Märchen namens Bundesverfassung
Märchen sind nicht wahr und lassen sich darum auslegen, wies beliebt. Ebenso beliebig interpretieren Regierung und Verwaltung die Bundesverfassung. In diesem Grundgesetz steht im Artikel 84: «Der alpenquerende Gütertransitverkehr von Grenze zu Grenze erfolgt auf der Schiene.» Und: «Die Transitstrassen-Kapazität im Alpengebiet darf nicht erhöht werden.»
Wollte die Regierung die Verfassung konsequent umsetzen, müsste sie den zweispurigen Gotthardtunnel für den Gütertransit sperren. Stattdessen beantragt sie in der Abstimmung vom kommenden 28. Februar, die Kapazität dieser Transitstrasse mit einer zweiten Röhre auf vier Spuren zu erhöhen. Zur Beruhigung erzählt sie das Märchen, zwei der vier Fahrspuren blieben ewig gesperrt. Darum handele es sich bei dem verbotenen Kapazitätsausbau auch nicht um einen Verfassungsbruch. Wers glaubt, zahlt drei Milliarden Franken.
Bleibt die Frage, wie man das Verbot des Gütertransits umsetzt. Dazu beschlossen Bundesrat und Parlament ein Gesetz, das die Zahl aller Lastwagenfahrten auf 650 000 begrenzt. Doch auch dieses Ziel wird nicht erfüllt. Peter Füglistaler, Chef des Bundesamts für Verkehr, der sich im Abstimmungskampf für die zweite Röhre engagiert, rechtfertigt diesen Verstoss kreativ: «Ab und zu macht sich ein Ziel auch selbständig», erklärte er der «Handelszeitung», und interpretierte: «Nach Annahme der Alpeninitiative war weniger die Verkehrsmenge das Thema, sondern die Umweltbelastung.»
Bei dieser Lesart bleibt irrelevant, was in der Verfassung und den Ausführungsgesetzen steht. Was Recht oder Unrecht ist, überlassen wir der Interpretation von Regierungsleuten oder Chefbeamten. Denn diese wissen offenbar besser als die Stimmbevölkerung, was diese wollte, als sie – zum Beispiel – der klar formulierten Alpeninitiative zustimmte. Wenn diese Politik ins Kraut schiesst, wäre es auch egal, was am 28. Februar beschlossen wird. Denn so oder so: So ist es nicht gemeint.