Hooligan-Debatte: Der Schaden ist angedichtet
Die SBB behauptet, Fussballhooligans würden in ihren Extrazügen Millionenschäden anrichten. Ein der WOZ vorliegendes internes SBB-Papier belegt, dass die Sachschäden weit geringer ausfallen.
«Randalierer verursachten den SBB in der Saison 2009/10 insgesamt Schäden von rund 3 Millionen Franken», schrieb der «Tages-Anzeiger» im Mai 2010. Ein Jahr später, im Juli 2011, ist in der «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens zu erfahren: «Drei Millionen Franken Schaden verursachen randalierende Fans in den Zügen jährlich.»
Jetzt belegen interne Zahlen der SBB: Der eigentliche Sachschaden beträgt weniger als ein Zehntel. Der WOZ liegt ein Dokument vor, das die SBB ihren zuständigen MitarbeiterInnen und den Bahnpolizeistellen in den Regionen zukommen liess. Die «Schadenssumme» an den über 200 Extrazügen, die Fans von Basel, Zürich, Luzern, St. Gallen, der Grasshopper (GC) und der Young Boys (YB) in der Saison 2009/10 benutzten, betrug demnach lediglich 225 503.65 Franken. Und alles deutet darauf hin, dass sich der Betrag in der Saison 2010/11 noch einmal deutlich verringert hat.
«Schlicht und einfach zu viel»
Die SBB wendet laut eigenen Angaben für Fanextrazüge 4,5 Millionen Franken jährlich auf. 1,5 Millionen sind betriebliche Selbstkosten, die durch den Billettverkauf gedeckt sind. Bleiben 3 Millionen ungedeckte Kosten, die die SBB im Zusammenhang mit Fanextrazügen seit längerem kommuniziert. Auf Nachfrage der WOZ teilt die SBB mit, diese 3 Millionen setzten sich zur einen Hälfte aus Kosten für Begleitung und Sicherheit, zur anderen aus Aufwendungen für Zusatzreinigungen und Behebung von Sachschäden zusammen. «Es spielt für uns keine Rolle, wie viele Franken in der medialen Berichterstattung welcher Ursache zugeordnet werden – es sind schlicht und einfach 3 Millionen Franken zu viel an unnötigen Ausgaben für die SBB», hält SBB-Sprecher Reto Kormann fest. Und fügt an, dass die Schadenssumme im erwähnten SBB-Papier mit Vorsicht zu geniessen sei. Es handle sich dabei um vom jeweiligen Zugpersonal rapportierte Schäden, für die es buchhalterische Frankenwerte gebe. «Die tatsächlichen Kosten der Reparatur oder des Ersatzes, beispielsweise nur schon der damit verbundene Arbeitsaufwand oder verborgene Schäden, sind darin nicht enthalten.» Zudem fehlten in der erwähnten Summe auch die Schäden an Infrastrukturen wie beispielsweise Bahnhöfen.
Warum die SBB mittels aufwendiger Tabellen und Grafiken über eine Extrazugsaison Bilanz zieht, darin aber nicht alle Kosten ausweist, bleibt offen. Selbst wenn die Schadenssumme 2009/10 in Wahrheit doppelt so hoch wie angegeben ausgefallen wäre, haben die medial transportierten 3 Millionen Franken mit der Realität nichts zu tun. Das war den Newsredaktionen aber zu wenig schlagzeilenträchtig.
Ausgerechnet der SBB-Verwaltungsratspräsident bestätigt, dass die eigentlichen Sachschäden einen Bruchteil der öffentlich gehandelten 3 Millionen ausmachen. Ulrich Gygi ist nicht nur SBB-Präsident, sondern sitzt auch im Beirat der Young Boys. Dort soll er einen Fanvertreter mit den jährlichen Sachschäden in Millionenhöhe konfrontiert haben, worauf dieser den obersten Bähnler über die Zahlen im internen SBB-Bericht aufklärte. Worauf Gygi wiederum in einem Interview mit der «Aargauer Zeitung» meinte, 16 000 Fans, die die YB in der Saison 2010/11 zu Auswärtsspielen begleiteten, hätten einen Gesamtschaden von 13 000 Franken angerichtet. Und er fügte an: «Das ist nicht viel.»
Seither fragen sich die Leute in Zürich, Luzern oder Basel, ob man einen SBB-Präsidenten im Verein braucht, um positive Entwicklungen dokumentieren zu dürfen. Sie sind nämlich überzeugt, ebenfalls «nicht viel» Schaden angerichtet zu haben, womöglich sogar deutlich weniger als 13 000 Franken. Im Fall des FC Luzern, dessen Fankurve Präsident Walter Stierli nach eigenen Aussagen am liebsten «austauschen» würde, war es bereits 2009/10 weniger als die Hälfte von «nicht viel»: 5 696 Franken, laut SBB-Papier.
Die «unnötigen Ausgaben» entstehen der SBB zu einem Grossteil aus einer Politik, die sowohl bei den Bundesbahnen als auch bei Fans und Fanarbeitenden aller involvierten Vereine als erfolgreich gilt. Weil sie die Fans um jeden Preis von den Regelzügen fernhalten und «ein Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Kundengruppen im Zug und auf den Bahnhöfen» vermeiden wollen, locken die Bundesbahnen die Fussballreisenden mit stark vergünstigten Billetten auf die Extrazüge. Die günstigen Tickets sind einer der Hauptgründe für die ungedeckten Kosten, gleichzeitig verhindern sie einen zwar kaum quantifizierbaren, letztlich aber viel grösseren Schaden: dass sich nämlich Fans unangemeldet zu Hunderten in die Regelzüge begeben.
Bei vielen Vereinen sind im Bereich Extrazüge laut Direktbeteiligten grosse Fortschritte erkennbar, mutwilliges Beschädigen von Rollmaterial gebe es immer seltener. Diesen Trend würden selbst die SBB-Verantwortlichen an den regionalen Treffen bestätigen, heisst es. Verlange man aber konkrete Zahlen, winke die SBB ab. Claudius Schäfer, der als CEO der Swiss Football League im Vorstand von Fanarbeit Schweiz sitzt und regelmässig an den Sitzungen mit Fanarbeitenden und einem SBB-Verantwortlichen teilnimmt, bestätigt, dass von den Vereinen viel Positives zu hören sei: «Das können wir jedoch nicht kommunizieren, weil uns die genauen Zahlen fehlen, mit denen wir die Fortschritte belegen könnten. Diese Situation ist für die Liga sehr unbefriedigend.» Doch warum gibt sich die SBB bedeckt, wo es doch einen für alle ermutigenden Trend zu belegen gäbe? «Wir machen die Zahlen nicht publik, weil wir keinen ‹Hooligan-Wettbewerb› der angerichteten Sachschäden provozieren wollen», erklärt SBB-Sprecher Kormann.
Aufhebung der Transportpflicht?
Fans und Fanarbeitende bemühen sich zum Teil seit Jahren um eine gute Zusammenarbeit mit dem Bahnpersonal, erinnern auf Flugblättern die Mitreisenden an ihre Mitverantwortung und durchkämmen mit Abfallsäcken die Abteile. Bestünde ein Interesse an einer Vandalismusmeisterschaft, hätte sie schon längst begonnen, denn die Fanszenen der einzelnen Vereine erfahren auch ohne die Zahlen der Bundesbahnen, wenn auf anderen Zügen Gravierendes vorfällt.
In der Frühjahrssession wird im Parlament der Wunsch der SBB nach Aufhebung der Transportpflicht behandelt. Das Unternehmen im Dienst der Öffentlichkeit will nicht länger Personengruppen befördern müssen, die Woche für Woche, Jahr für Jahr angeblich «ganze Lokomotiven zertrümmern», wie es in «10 vor 10» vor Jahresfrist wörtlich hiess. Die ungedeckten Kosten sollen per Gesetz auf die Vereine abgewälzt werden, die für ihre Fans in Zukunft Züge chartern und entsprechend haften sollen (vgl. «Das erfolgreiche YB-Modell»). Die SBB, im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichen und politischen Ansprüchen, will sich aus Kostengründen der Pflicht zum Fantransport entledigen, und 3 Millionen Franken an Sachschäden jährlich wären hierfür ein gutes Argument. Ob aber zehn- oder zwanzigmal weniger auch noch reichen für einen weiteren Schritt weg vom Service public?
Extrazüge : Das erfolgreiche YB-Modell
«Wir sind der Meinung, dass die Klubs gesetzlich verpflichtet werden müssen, die Verantwortung für das Verhalten ihrer Fans im öffentlichen Raum – und speziell im ÖV – zu übernehmen», schreibt die SBB. Konkret heisst das: Die Klubs sollen in Zukunft Fanzüge chartern und für Billettkontrolle, Sicherheit, Reinigung und Schäden aufkommen. Die WOZ hat bei jenen sechs Klubs, deren Fans regelmässig Extrazüge benutzen, nachgefragt, wie sie zur Idee der SBB stehen.
Weder der FC Basel, der FC Luzern, der FC Zürich, der FC St. Gallen, der Grasshopper Club (GC) noch die Young Boys (YB) äussern die Absicht, künftig Fanzüge zu chartern. GC erachtet es als wenig sinnvoll, dass «ein zusätzlicher Partner ins Boot geholt würde, vor allem weil die SBB von ihrer Kernkompetenz und jahrelanger Erfahrung profitieren können». Basel, Luzern und St. Gallen verweisen auf den Pilotversuch von SBB und YB, dessen Auswertung man abwarten wolle. «Fällt die Bilanz positiv aus, können wir uns grundsätzlich vorstellen, eine ähnliche Vereinbarung mit den SBB abzuschliessen», schreibt der FC St. Gallen.
Beim YB-Modell handelt es sich nicht um Charterzüge. Der Klub ist mit der SBB aber eine erweiterte Kooperation eingegangen: In Zusammenarbeit mit den beiden Fandachverbänden übernehmen die Berner die Verantwortung für Sicherheit und Sauberkeit auf den Zügen und nehmen auch die Billettkontrolle vor. Für Schäden haften sie nicht.
Der Pilotversuch erstreckte sich über die Auswärtsspiele der Hinrunde 2011/12 und wird demnächst ausgewertet. YB profitiert dabei von der Vorarbeit der Fandachverbände. So ist es schon vor dem Pilotversuch dreimal in Folge gelungen, die Schadenssumme zu halbieren.
Pascal Claude
Nachtrag vom 8. Februar 2012 : Perfides Spiel auf Kosten der Fans
«Dichtung und Wahrheit» schreibt die «BaZ», «Merkwürdige Schadensminderung» die «NZZ am Sonntag». Worum es geht? Vergangenen Freitag erklärte SBB-CEO Andreas Meyer an einer Pressekonferenz, die Schäden an Fussballfan-Extrazügen würden sich auf rund 300 000 Franken jährlich belaufen. Meyer zieht damit einen Schlussstrich unter eine Kampagne, die die SBB zu weiten Teilen mitverantwortet haben. Von «Drei Millionen Franken Schaden jährlich» war über Monate zu lesen. Fernsehen und Zeitungen machten aus den Zahlen, die ihnen die SBB lieferten, spektakuläre Geschichten über marodierende Hooliganvandalen. Bei den Bundesbahnen wusste man um die falsche Interpretation der Zahlen, schaute dem medialen Kesseltreiben aber tatenlos zu. Denn die Falschmeldung kam gelegen.
Anfang Januar machte die WOZ aufgrund eines internen SBB-Papieres publik, dass die Schlagzeile mit den «drei Millionen» jeder Grundlage entbehrt und die Sachschäden in Wahrheit zehnmal weniger betragen. In kryptischen Formulierungen stellte die SBB-Medienstelle dies damals noch in Abrede: Das Papier weise nur «buchhalterische Werte» aus, es fehlten die «versteckten Schäden».
Im Juli 2011 hatte Verwaltungsratspräsident Ulrich Gygi in einem Interview von den Fanzügen als «Schlachtfeldern» gesprochen und für die Aufhebung der Transportpflicht plädiert («Das würde mithelfen, das Problem zu entschärfen»). Und noch im Dezember schrieb die SBB-Medienstelle in einer Mail an die WOZ: «Der Fantransport hat mit Charterzügen in der Verantwortung der Klubs zu erfolgen.»
Über die Aufhebung der Transportpflicht sollten die Vereine zu Haftung und Kostenübernahme gezwungen werden, und die «drei Millionen Sachschäden» unterstrichen diese politische Forderung trefflich. Von all dem ist nun plötzlich nicht mehr die Rede: Er wolle keine Regulierungswelle, so CEO Meyer, also keine erzwungenen Charterzüge, sondern eine verstärkte Kooperation mit allen Klubs nach dem Vorbild der Berner Young Boys. Dort – aber auch bei anderen Klubs – bemühen sich Fans seit langem um friedliche Auswärtsfahrten. Der Dank? Fette Schlagzeilen. Und ein SBB-CEO, der von «Verantwortung» spricht.
Pascal Claude