Dokumentarfilm «Balkan Melodie»: Ei, was tönt da aus dem Radio?

Nr. 10 –

Unterwegs im Osten auf der Suche nach neuer Musik: Der neue Dokumentarfilm von Stefan Schwietert erzählt von Marcel und Catherine Cellier und ihren musikalischen Entdeckungen zur Zeit des Kalten Kriegs.

Mitten hinein in die unbekannte Musik: Marcel Cellier (am Bass) in einer nicht identifizierten Combo am Schwarzen Meer, sechziger Jahre. Foto: Catherine Cellier

Hoch über den terrassierten Rebhängen von Lutry am Genfersee steht ein Haus mit einem prächtigen Garten. Eine betagte Frau kümmert sich um die blühenden Rosen, ein Mann grümschelt in einem vollgestellten Zimmer, in das «keine Briefmarke» mehr reinpasst. An den Wänden hängen einige goldene Schallplatten, unzählige Kassetten mit Tonbändern füllen die Regale, alte Tonbandgeräte und ein Mischpult stehen da. Verblichene Fotos, Geigen, Panflöten, Perkussions-, Zupf- und Blasinstrumente schmücken die Wände, vor denen ein fein gedrechseltes Cymbalon (Hackbrett) steht. Wir sind im Reich von Marcel und Catherine Cellier.

Musikethnologische Reisen im Balkan

Der Schweizer Filmer Stefan Schwietert bringt uns mit «Balkan Melodie» eine Musik näher, die eng mit dem Leben der Celliers verknüpft ist. Die Geschichte beginnt in den fünfziger Jahren in einem Pariser Café: Eine Frau setzt sich zu Marcel Cellier an den Tisch. Sie kommen ins Gespräch, und er lädt sie kurzerhand zu seiner ersten Reise in den Balkan ein. Er soll als Vertreter einer Metallhandelsfirma mit seinem Mercedes nach Bulgarien fahren.

Bald sind sie unterwegs. Catherine, die später seine Ehefrau wird, balanciert ein Emerson-Radio auf den Knien. Es ertönen ungewohnte Klänge aus den Sendern von Bukarest, Sofia und Skopje. Marcel Cellier, der selbst verschiedene Instrumente spielt, ist begeistert. Die Modulationen und Klangfarben der fremden Instrumente faszinieren ihn – Catherine lässt sich anstecken.

Auf den folgenden Reisen hat er immer das Aufnahmegerät für musikethnologische Forschungen dabei, sie die Super-8-Kamera und den Fotoapparat. Anders als der Komponist Béla Bartók, der die Musik der ungarischen Bauerngesellschaft sammelte, fühlt sich Marcel Cellier stark von der Musik der herumreisenden Rom angezogen. In den sechziger Jahren beginnt er am Samstagnachmittag auf Radio suisse romande seine Schätze in der Sendung «De la Mer Noire à la Baltique» auszubreiten.

Stefan Schwietert nutzt das umfangreiche dokumentarische Material der Celliers, montiert es mit viel Feingefühl zu einer stimmigen Geschichte und lässt auch die Musik nicht zu kurz kommen. Die ausgebleichten pastelligen Farben der Super-8-Filme von den Reisen der Celliers kontrastieren mit der opulenten Pracht von Aufnahmen verschiedener staatlicher Fernsehanstalten. Dazwischen geschnitten sind aktuelle Begegnungen Schwieterts mit den MusikerInnen, die dank der Vermittlungsarbeit der Celliers im Westen bekannt wurden und die Welt bereisen konnten.

In Bukarest lernen sie 1968 den Panflötenvirtuosen Gheorge Zamfir kennen, der aus einem Dorf in den südlichen Karpaten stammt und sich in Rumänien als Volksmusiker bereits einen Namen geschaffen hat. Kurz darauf spielt Zamfir in einer St. Galler Kneipe. Als Marcel Cellier davon erfährt, holt er ihn kurzerhand nach Lutry. Hier spielt er mit ihm die Platte «Flûte de Pan et Orgue» ein, die zu einem Bestseller wird. Sie trifft den Zeitgeist der Hippies und leitet Zamfirs Weltruhm ein. Der heutige Zamfir, der im Film verbittert wirkt, gibt einige wirre Statements ab. Doch eine der schönsten Szenen von «Balkan Melodie» ist jene des jungen Zamfir, der zu Beginn seiner Karriere morgens um vier Uhr im Garten der Celliers die Gesänge der Amseln mit seiner Panflöte imitiert.

Das Ende der Popularität

Eine ähnliche Erfolgsgeschichte ist jene der Sängerinnen, die nach einer Plattenproduktion im Westen als «Le mystère des voix bulgares» bekannt wurden. Ihre Begegnung mit den Celliers sei «eine glückliche Fügung» gewesen, sagt eine der Sängerinnen, die vom verblichenen Ruhm erzählt. Sie hätten zwar nicht besonders viel verdient, dafür aber eine normalerweise den BulgarInnen verschlossene Welt kennengelernt. Jetzt, nach dem Ende des Kommunismus, haben die Frauen kaum noch Arbeit – treffen sich im privaten Kreis zum Singen.

Die folkloristische Kunst und Musik wurde von den kommunistischen Regierungen stark gefördert – nach der Wende war es jedoch mit deren Popularität vorbei. Nur wenige damals bekannte Bands schafften den Anschluss – so zum Beispiel die Mahala Rai Banda, die auch im Film porträtiert wird. Goran Bregovic und der Regisseur Emir Kusturica haben der Band mit dem Geiger Aurel Ionita mit Konzerten und Filmen im Westen den Weg geebnet.

Mit «Balkan Melodie» fügt Schwietert seiner Filmografie einen weiteren funkelnden Stein hinzu. Am Anfang stand die eindrückliche Spurensuche zur Klezmermusik mit «A Tickle in the Heart» (1996). In regelmässigen Abständen folgten weitere sorgfältig recherchierte, dokumentarisch angelegte Filme.

Die Celliers sind bis in die neunziger Jahre hinter dem Eisernen Vorhang unterwegs. Mit der Wende haben die Balkanreisen für sie ein Ende. Aber Marcel spielt noch jeden Abend mindestens zwei Stücke aus seiner umfangreichen Sammlung und genehmigt sich ein Bier dazu. Catherine, mit der er seit 55 Jahren zusammen ist, werkelt im Nebenzimmer und hört zu. Sie sind sich einig: «Welch ein Glück!»

Ab 8. März in Deutschschweizer Kinos.

Mahala Rai Banda in: Bern, Dachstock Reithalle, 
Fr, 23. März 2012, 20.30 Uhr. www.dachstock.ch

Balkan Melodie. Regie: Stefan Schwietert. Schweiz, Deutschland, Bulgarien, 2011