Fussball und andere Randsportarten: Hypnotischer Sog
Stefan Howald versucht, ein altes Hirtenspiel zu erklären.
Wenn das englische Cricket-Nationalteam ein Länderspiel spielt, dann räumt die BBC einen Radiosender frei und berichtet nonstop darüber. Fünf Tage lang, von 11 bis 18 Uhr. So lange dauert ein Länderspiel. Cricket ist eben einmalig.
Vor einger Zeit kam Lilly Allen, die Popsängerin, in der BBC-Kommentatorenkabine vorbei, nervöser als vor jedem Konzert. Kurz zuvor hatte sie sich als Anhängerin geoutet. Für ihren Auftritt hatte sie sich seriös vorbereitet und wusste sogar, was ein «Googly» ist (eine besondere Wurftechnik, die ich erklären könnte, wenn diese Kolumne doppelt so lang wäre).
Ja, Cricket ist einmalig. Baseball? Ein Spiel für die armen amerikanischen Verwandten. Schlagball? Ein Spiel für die noch ärmeren kontinentalen Verwandten. Croquet? Eine blosse klangliche Verwechslung.
Also aufgepasst in den hinteren Reihen. Zwei Teams von je elf Spielern (Frauenteams fristen ein betrübliches Dasein) treten gegeneinander an; eines schlägt, das andere wirft und bewacht das Feld. Jeweils zwei Schlagmänner stehen mit länglichen Schlaghölzern vor zwanzig Meter entfernten gegenüberliegenden «Wickets», drei Holzstäben mit zwei kleinen Hölzchen obendrauf. Die Schlagmänner verteidigen ihr Wicket und versuchen, durch möglichst weite Schläge «Runs» zu erzielen; die gegnerischen Werfer versuchen, die Wickets mit einem Lederball zu zerstören, während ihre strategisch im Feld verteilten Kollegen die Schläge zu stoppen oder im Flug abzufangen versuchen.
Nun mögen die armen amerikanischen Verwandten einwenden, von Baseball unterscheide sich das nur dadurch, dass zwei Schlagmänner gleichzeitig im Spiel seien und nicht den amerikanischen Diamond umrunden, sondern langweilig hin und her rennen.
Was ein paar fundamentale Unterschiede übersieht. So kann ein Schlagmann nicht nur durch die Zerstörung seines Wickets oder durch einen abgefangenen Ball ausgespielt werden, sondern durch weitere sieben Arten, darunter das berüchtigte «lbw», das «leg before wicket», das nur erfunden worden ist, um heftig über entsprechende Entscheidungen diskutieren zu können (und das ich erklären könnte, wenn diese Kolumne dreimal so lang wäre).
Da der harte Lederball nicht direkt gegen den Schlagmann geworfen wird, sondern einmal vom Boden aufspringen muss, gibt es zwei Arten von Werfern: «fast bowler», die mit Geschwindigkeiten bis zu 140 Stundenkilometer werfen, und «slow bowler», die mit Effet arbeiten, wobei der Ball durch das Aufspringen die verblüffendsten Kapriolen vollführt.
Vor allem aber macht die Spieldauer aus Cricket ein ganz anderes Spiel. Lange kann defensiv gespielt werden, passiert nicht viel, sodass man sich auf der Tribüne der «Guardian»-Lektüre widmet, und plötzlich explodiert das Spiel, mittels meisterlicher Schläge oder ausgespielter Schlagmänner. Durch diesen unvorhersehbaren Rhythmus von Offensive und Defensive entwickelt Cricket einen hypnotischen Sog.
Zugegeben: Gespielt wird Cricket vor allem in England und seinen ehemaligen Kolonien. Es gibt gegenwärtig zehn Nationen auf höchstem Niveau: England, Indien, Pakistan, Westindische Inseln, Südafrika, Australien, Neuseeland, Sri Lanka, Bangladesch und Simbabwe. In der Schweiz wird Cricket von Einwanderern aus Sri Lanka und gelegentlich in englischen Internaten im Engadin gespielt.
Das höchst konservative, noch immer in Blütenweiss ausgetragene Cricket ist allerdings nicht von Umbrüchen verschont geblieben. Das Empire hat bereits seit ein paar Jahrzehnten zurückgeschlagen. In den achtziger Jahren lösten die West Indies die Lehrmeister aus Engländer ab, in den Neunzigern dominierten die Australier, und vor kurzem war Indien Weltranglistenerster. Mit dem Geld eines Schwellenlands ist in Indien eine Liga gegründet worden, die die besten Spieler aus aller Welt für die Sommersaison verpflichtet. Dabei geht es allerdings um eine massiv eingeschrumpfte Form: twenty20-Spiele, die nur noch etwa drei Stunden dauern, damit angeblich unterhaltsamer sind, weil durchgängig aggressiver gespielt wird. Und, aufgemerkt Sepp Blatter, im Cricket ist für strittige Entscheide der Videobeweis eingeführt worden. Da hat Cricket vom American Football gelernt. Es bleibt trotzdem einmalig.
Stefan Howald kann bei Cricketspielen eine ungeheure Geduld aufbringen. Die WOZ-Abschlussredaktion kann hingegen keine Minute länger auf Etrit Hasler warten.