Durch den Monat mit Gertrud Bernoulli (1): Dürfen alte Leute sterben, wenn sie das wollen?

Nr. 36 –

Die Rüschliker Pfarrerin Gertrud Bernoulli begleitet alte und demente Menschen in ihrer Gemeinde. Diese Arbeit macht sie glücklich – trotzdem fehlt ihr in der Kirche einiges.

Gertrud Bernoulli: «Einander brauchen, um das Leben besser zu meistern: Wenn die Menschen das mehr könnten!»

WOZ: Gertrud Bernoulli, Sie sind Pfarrerin in Rüschlikon. Was gehört zu Ihrer Arbeit?
Gertrud Bernoulli: Die üblichen Pfarramtsaufgaben – Gottesdienste, Taufen, Beerdigungen. Dazu kommt zum Glück mein Schwerpunkt, die Seniorenarbeit. Ich bin oft im Altersheim und im Pflegeheim präsent, leite Andachten, besuche Jubilare …

Zum Glück?
Ja, ich finde diese Arbeit hochspannend. Ich glaube, es gibt kaum interessiertere Leute – ausser vielleicht noch an Beerdigungen. Im Alter wird der Lebensraum kleiner, man ist mehr auf andere angewiesen und kann immer weniger inszenieren, um abzulenken. Angewiesensein ist menschlich! Dieser Gedanke begleitet mich von Anfang an: Meine ersten fünfzehn Jahre arbeitete ich in einem Pfarramt für Behinderte. Aber wir leben in einer Kultur, in der Abhängigkeit verpönt ist. Viele Leute wollen lieber sterben, als fragil und abhängig zu werden.

Die Kirche verbietet den Suizid. Was finden Sie?
Dass Menschen das Leben über den Kopf wachsen kann, verstehe ich gut. Ich habe auch Beerdigungen von Leuten, die sich das Leben genommen haben. Problematisch finde ich den gesellschaftlichen Druck – man hat es in der Hand, zu gehen, bevor man eine Last wird, und fühlt sich schon fast verpflichtet dazu. Meine Mutter, die letztes Jahr gestorben ist, sagte immer: Wir sind doch viel zu teuer. Und ich antwortete: Du bist doch eine gläubige Frau. Es gibt so schöne Bilder in der Bibel, etwa von Paulus: «Unser Leib ist ein Tempel Gottes.» Dann ist die Pflege alter Menschen eigentlich Tempeldienst!

Wenn eine alte Person sterben will, was sagen Sie zu ihr?
Ich versuche herauszufinden: Hat sie zu wenig Unterstützung? Ist sie unter Druck? Will sie dem Abhängigwerden aus dem Weg gehen? Aber ich verurteile niemanden, genauso wenig wie bei der Pränataldiagnostik. Das sind gesellschaftliche Probleme.

Verstehen Sie den Wunsch, zu gehen, solange man noch einigermassen beieinander ist?
Natürlich, ich hätte ihn wohl auch. Aber ich habe immer wieder andere Erfahrungen gemacht: Ich sehe viel Glück bei Menschen, die sehr abhängig sind. Auch im Umgang mit schwer behinderten oder intensiv pflegebedürftigen Leuten kann eine Gegenseitigkeit entstehen. Das Glück, einander etwas zu bedeuten – auch die Pflegenden sind berührt, wenn die Pflegebedürftigen sich öffnen. Natürlich ist Pflege teuer, aber sie ist ein sinnvoller Wirtschaftszweig. Das sind doch würdige Arbeitsplätze, besser, als in einem Callcenter irgendeinen Blödsinn zu verkaufen … Ich leite auch eine Gesprächsrunde über das Älterwerden. Das ist hochspannend! Die Themen wählen wir gemeinsam aus.

Zum Beispiel?
Umgang mit dem alternden Körper, Sterben, Schönheit, Angewiesensein in allen Formen, Zorn und Wut, schwierige Texte in der Bibel, letzthin wollten sie das Thema Sünde … eine Riesenpalette. Das beglückt mich. Einander brauchen, um das Leben besser zu meistern: Wenn die Menschen das mehr könnten! Die gleichen Themen kann ich auch in den Andachten bringen. Ich habe einen grossen Vorteil, weil ich früher geistig Behinderte unterrichtet habe. Ich habe gelernt, religiöse Themen ganz einfach und anschaulich auf den Punkt zu bringen. Das kommt mir heute bei der Arbeit mit alten, zum Teil dementen Menschen zugute.

Die religiöse Sprache ist oft metaphorisch. Können Sie solche Bilder benützen?
Es braucht ganz einfache Elemente. Zum Beispiel das Osterritual, das ich im Pfarramt für Behinderte entwickelt habe: Wir legen mit Backsteinen ein Kreuz – das zeigt anschaulich das Schwere, das Leiden. Nachher verwandeln wir dieses Kreuz mit Licht und Blumen in einen Lebensbaum. Einfache, emotionale Symbole gehen gut – die Hände, das Herz –, denn auf der emotionalen Ebene sind demente Menschen voll da. Sie spüren auch, ob man sie ernst nimmt. Die Seele wird ja nicht dement.

Arbeiten Sie Vollzeit?
Nein, ich war immer zu fünfzig Prozent angestellt, mein Mann auch. Wir fanden, ein Lohn reiche für uns beide. Ich verdiente schon am Anfang mit einer halben Stelle mehr als mein Vater am Schluss als Vollzeit-Hilfsarbeiter! Und ich ahnte bald, dass ich in der institutionalisierten Kirche nicht meinen ganzen Glauben leben kann. Das Anwaltschaftliche, das für mich zum Christentum gehört, fehlt mir hier.

Wo wurden Sie aktiv?
Ich kam früh zu den Frauen für den Frieden, engagierte mich gegen die Apartheid in Südafrika, für die Bankeninitiative – da habe ich auch mal auf dem Paradeplatz «Geld gewaschen». Bald nahmen Flüchtlingsthemen immer mehr Raum ein, Asylpolitik, ich machte mit, als in Seebach eine chilenische Flüchtlingsgruppe Kirchenasyl bekam. Gentechnik, Pränataldiagnostik … die ganze Palette. Und irgendwann merkten wir, dass die Leute, die sich an vielen Orten so engagieren, keinen Ort haben, wo sie Kraft schöpfen und den spirituellen Austausch pflegen können. Daraus entstand dann 1990 der Politische Abendgottesdienst.

Gertrud Bernoulli (61) ist seit 35 Jahren Pfarrerin. Seit 22 Jahren organisiert sie in Zürich mit einem Team den Politischen Abendgottesdienst. Heute arbeitet sie in Rüschlikon am Zürichsee.